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Der Kampf um die Erinnerung

Von Gerhard Stadler

1914

Vor 100 Jahren trat Italien in den Krieg gegen Österreich-Ungarn ein. Dieser Akt gibt heute Anlass zu einer gemeinsamen Gedenkkultur.


Eine neue Friedenskapelle an der ehemaligen Reichsgrenze beim Passo di Vezzena: Die Fahnen symbolisieren den Wandel der Gedenkkultur der einstigen Gegner.
© Foto: Stadler

1915: Als am 23. Mai Italiens Botschafter die Kriegserklärung von König Viktor Emanuel III. dem k.u.k. Außenminister Graf Burián überreichte, kam dies nicht unerwartet: Italien war zwar mit Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich im Dreibundvertrag, der 1912 bis 1920 verlängert worden war und eine wechselseitige Beistandspflicht vorsah, verbunden. Doch hatte Außenminister Graf Berchtold vor der Übergabe des Ultimatums an Serbien am 23. Juli 1914 Italien nicht verständigt. Dies war im Vertrag im Falle einer drohenden kriegerischen Auseinandersetzung vorgesehen, um die Absprache von Gebietskompensationen zu ermöglichen.

Gebietsansprüche

Italien erklärte seine Neutralität und beobachtete ab Kriegsbeginn genau den Verlauf der Kämpfe. Als dieser anfangs für die Mittelmächte sehr ungünstig war - der deutsche Vormarsch endete an der Marne, gegen Serbien gab es kaum Erfolge und dann Rückzug, Galizien musste gegen Russland bis vor Krakau aufgegeben werden und die Festung Przemysl war eingeschlossen und wurde ausgehungert - stellte Italien territoriale Bedingungen für einen Kriegseintritt: "Trento e Trieste" (wozu später noch Dalmatien kam). Franz Joseph lehnte sie kategorisch ab, erlaubte jedoch im März 1915 seinen Diplomaten, über das Trentino zu sprechen.

Aber Italien verhandelte bereits im Geheimen mit Frankreich und England - und die Entente konnte Italien leichten Herzens Tirol bis zum Brenner und die östliche Adriaküste bis Sibenic (ohne Rijeka) versprechen, dazu noch türkische Inseln in der Ägäis und künftig weitere Kolonien in Afrika. Am 25. April 1915 wurde in London der Vertrag unterschrieben und Italien zum Kriegseintritt binnen Monatsfrist verpflichtet. Der britische Versuch, auf der türkischen Halbinsel Gallipoli zu landen, stand vor einem Desaster, die serbische Armee war durch Epidemien und Erschöpfung kampfunfähig, in Galizien plante General Conrad mit einer Übermacht von deutschen und k.u.k. Armeen den Angriff auf die russische Front.

Stand die Kriegswende bevor? In Wien und Berlin - wo Wilhelm II. Franz Joseph sogar angeboten hatte, das von Friedrich II. 1742 genommene Schlesien zurückzugeben, um nur ja Italien vom Kriegseintritt abzuhalten - wusste man seit dem 3. Mai, als Italien den Dreibundvertrag kündigte, dass bald an einer weiteren Front zu kämpfen sein würde.

In Redipuglia bei Monfalcone, dem Friedhof der 100.000 Kriegstoten, bereitete der "Duce" Benito Mussolini 1939 die Italiener auf den nächsten Krieg vor.
© Foto: Stadler

"Ein Treuebruch, dessengleichen die Geschichte nicht kennt" war Franz Josephs sprachlich gekonnte Antwort auf die italienische Kriegserklärung. Doch militärisch war man wenig vorbereitet: Die Flotte war noch im Aufbau, in Welschtirol der Festungsgürtel (halb) fertig, am Isonzo gab es keine Befestigungen und reguläre Truppen, sodass man die rasche Besetzung Triests und Laibachs, ja Villachs fürchtete - doch Italien zögerte mit dem Vormarsch. Für Tirol war man optimistischer, da die mit dem Hochgebirgsterrain vertrauten Tiroler und Vorarlberger Schützen ein erstes Aufgebot der Verteidigung bildeten, bis aus der russischen Front Divisionen herausgezogen werden konnten.

Krieg und Kriegsopfer

Die ersten Schüsse an der neuen Front von der Schweizer Grenze beim Ortler über den Isonzo bis zur südlichen Adria fielen am 23. Mai 1915 um Mitternacht am Grenzbach Judrio in Visinale nördlich von Cormons, in der bukolischen Landschaft des Collio (heute geschätzt von Gourmets und, da steuerschonend, neu sich ansiedelnden österreichischen Winzern). Das letzte Gefecht der k.u.k. Armee war, in einer gleich zu beschreibenden Landschaft, am 3. November 1918 in Volano, an der Etsch südlich Trients. Dazwischen lagen dreieinhalb Jahre mit zwei Millionen Toten und Verwundeten.

Im Vertrag von St. Germain, von dessen Verhandlungen Österreich ausgeschlossen war, erhielt Italien zwar Tirol südlich der alpinen Hauptwasserscheide (und zusätzlich das Becken von Innichen), das Isonzotal, Istrien und Triest, nicht aber das in London ebenfalls versprochene Dalmatien. Auch der neue südslawische Staat wurde von der Entente als Sieger behandelt. Obwohl Italien bis zum Waffenstillstand keines der zugesprochenen Gebiete hatte besetzen können, sah man das Ergebnis des Friedensvertrags als unbefriedigend an. Der Friede stürzte das Königreich ins wirtschaftliche und politische Chaos, aus dem Mussolini 1922 als Sieger hervorging. 1922/24 gelang es doch noch, Zara (Zadar) und Fiume (Rijeka) zu erhalten.

Denkmalsturz

1919 wurden in den zugesprochenen Gebieten fast alle an die alte Herrschaft erinnernden Statuen entfernt - doch nicht zerstört, sondern in Depots gelagert und die Sockel blieben stehen. Cormons schonte die Statue von Kaiser Maximilian I.: Er hatte 1487 bei der Aufnahme der Stadt unter Habsburgs Krone den Bürgern Steuerprivilegien gewährt.

Der faschistische Staat italianisierte die neuen Gebiete und markierte sie mit Siegesdenkmälern und Heldenfriedhöfen im antiken Stil und von monumentaler Größe: vom Passo di Tonale und Bolzano über den Monte Grappa bis Gorizia und Trieste. Ihre Inschriften beschwören die Wiedergeburt des Imperium Romanum, die Soldaten seien sinnhaft gestorben: Eroi, Helden. Die Toten seien mitten unter uns, Presente. Dieses Wort beherrscht das größte Denkmal, in Redipuglia nördlich von Monfalcone, wo 100.000 Leichen begraben sind. Es heißt, als Mussolini es 1938 der Nation übergab, habe man die Namen von 39.000 identifizierten Gefallenen aufgerufen, und symbolisch mit Presente, geantwortet. Damals hatte sich Italien bereits in den nächsten Krieg verwickelt, um Kolonien in Nordafrika.

Schräg gegenüber ein bescheidener Friedhof von 10.000 bei der Verteidigung von Görz und Triest k.u.k.-Gefallenen. 1915, als die Toten noch zählbar waren, wurden auch für diese Heldenfriedhöfe errichtet, von denen einige stimmungsvoll bis heute bestehen, betreut vom österreichischen Schwarzen Kreuz: von Slaghenaufi auf der Hochfläche von Longarone bis ins nun slowenische Log pod Mangartom unter dem Predilpaß, und in der Javorka bei Tolmin am Isonzo. Die von Bühnenbildnern des Burgtheaters, die in Stellung waren, 1916 erbaute Jugendstilkirche ist heute liebevoll restauriert und für Mountainbiker ein beliebtes Ziel.

In Österreich gibt es seit den Zwanzigerjahren in jeder Gemeinde ein Kriegerdenkmal, mit den Namen der Gefallenen - nach 1945 erweitert um die der Toten des Zweiten Weltkrieges. Wäre der Krieg gewonnen worden, hätte Wien wohl ein den italienischen vergleichbares Monument: zwei Ausschreibungen von 1915 ergaben u.a. Otto Wagners Entwurf einer monumentalen Friedenskirche auf der Schmelz und, von Friedrich Ohmann, Stadt wie Donautal dominierend, eine Überbauung des Leopoldsberges mit einer Krypta für die Maria-Theresienritter und einer Völker- und Ruhmeshalle - am historischen Ausgangspunkt der Befreiung Wiens von den Türken 1683. Schließlich wurden zwei einfache Denkmäler im Zentralfriedhof errichtet und das Äußere Burgtor 1934 umgestaltet. Dies wurde aber nicht nur den Gefallenen gewidmet, sondern - man war schon im Ständestaat - auch den ruhmreichen Schlachten der habsburgischen Armeen und ihren Feldherren.

Erinnerungspolitik

Der Krieg gegen Italien blieb der bei uns einzig "populäre", umso schmerzlicher daher die "Perfidie" Italiens an seinem Anfang und die Niederlage im Feindesland. Man las Erinnerungen der Generäle - von diesen subjektiv geschrieben, oft auch, um die karge Pension aufzubessern; Memoiren von Politikern und Diplomaten waren selten. 1935 trat ein "Gesetz zum Schutze des Ansehens Österreich" in Kraft, um "Nestbeschmutzungen" zu verhindern. Aus dem Ständestaat, der den Rückbezug aufs "Altösterreichische" als Teil seiner Staatsidee pflegte, sei noch eine Episode erwähnt: Die Italiener hatten Ende 1918 nach der Besetzung des k.u.k. Hauptkriegshafens Pola in Istrien auch die dortige Statue von Admiral Tegetthoff entfernt und in Venedig gelagert. Als sich Mussolini kurzzeitig um Österreich bemühte, schenkte er 1935 jene Statue der Stadt Graz als Hauptstadt des (Kron)-Landes, in dem Tegetthoffs Geburtsort Marburg einst lag. Das Denkmal wurde in einem Staatsakt enthüllt, wobei Bundespräsident Miklas pathetisch die Zukunft Österreichs mit seiner Geschichte verknüpfte: "Zurück auch in die Vergangenheit und vorwärts in die Zukunft!"

Nach 1945 war das Verhältnis zwischen Österreich und Italien wegen Südtirol während dreier Jahrzehnte schwer belastet. Italien hatte im Friedensvertrag von Paris 1947 Istrien wieder abtreten müssen, Görz wurde geteilt, und Italien musste um Triest bangen. Aber es behielt Südtirol. Das Bemühen der Schutzmacht Österreich um die 1946 völkerrechtlich zugesagte Autonomie der Provinz Bozen wurde von Terrorakten in Südtirol, 1961 der Einführung der Visapflicht für Österreicher und dem Veto Italiens gegen die ersten Bemühungen Österreichs um Verträge mit der EWG erschwert, und beendet erst 1992 in der UNO und mit der Durchführung der Autonomie. Das war nicht die Zeit für ein offizielles Besinnen der beiden Staaten auf Gemeinsamkeiten der Vergangenheit.

Aber von Österreichern gingen private Initiativen aus, um das Geschehen jener Kriegsjahre in den Alpen dokumentarisch festzuhalten und den "Landesbeschreibungen" zuzufügen, ohne Pathos und Trauer um die verlorenen Gebiete oder Klagen über die Ungerechtigkeit der Geschichte: Heinz (von) Lichem gab mehrere reich illustrierte Bücher über den Gebirgskrieg heraus und Walter Schaumann ab 1973 vier Bände über den Frontverlauf und die Reste der Stellungen und Kriegsbauten beider Seiten vom Ortler bis zum Kanaltal, ebenfalls reich bebildert. Dieser Krieg war ja der erste auch in Fotos festgehaltene. Bis heute werden neu gefundene Aufnahmen publiziert und in Ausstellungen gezeigt.

Verbindende Wege

Schaumann ging in seinem Lebenswerk weit darüber hinaus: Der Verein "Dolomitenfreunde - Friedenswege" sicherte Stellungsreste, rekonstruierte und verband Kriegswege über die einstigen Fronten hinweg, um sie touristisch zu erschließen: "Wege, die einst die Fronten trennten, sollen heute verbinden." Das Freilichtmuseum Plöckenpass und das Historische Museum Kötschach-Mauthen wurden von ihm initiiert und bis zu seinem Tod 2004 betreut.

Gleich nach der Unabhängigkeit fanden sich in Slowenien Gleichgesinnte, die diese konservierende und beschreibende Arbeit in den Julischen Alpen und am Isonzo fortsetzten. In Kobarid (dem Karfreit der 12. Isonzo- schlacht vom Oktober 1917) wurde schon 1992 ein Museum eröffnet. Es ist der Abwehr der italienischen Angriffe gewidmet, zeigt aber auch drastisch den Kriegsalltag in seiner Unmenschlichkeit - dieser ist noch immer ausgespart in den offiziellen Museen Italiens.

Doch in den letzten Jahren gab es auch in Italien andere Aktivitäten. Es erschienen viele Bücher (leider nicht ins Deutsche übersetzt), und die einstigen Frontabschnitte wurden mit Infrastruktur, Beschilderung, neutraler Beschreibung und Aufnahme in die Tourismuswerbung erschlossen. Neue Straßen führen zum Monte Matajur oder auf den Gipfel des Kolovrat am Westufer des Isonzo. Die Strada delle Gallerie am Pasubio, der Aufstieg von Chiesa vorbei am Museumsfort Gschwendt zum Forte Cima di Vezzena, der Klettersteig auf den Paternkofel gegenüber den Drei Zinnen - das sind alles Landschaften von herausragender Schönheit.

Wer zum Gardasee fährt - an dem heute mehr Österreicher ihre Domizile haben als zu k.u.k Zeiten -, sieht seit 1980 in Arco wieder das historische Denkmal von Erzherzog Albrecht vor seinem (jetzt in Appartements geteilten) Schloss.

In Triest(e) hat Kaiserin Elisabeths Denkmal wieder vor dem alten Südbahnhof seinen Platz gefunden, dasjenige Erzherzog Maximilians an der Riva. "Il Piccolo", Triests größte Tageszeitung, hat 2014 eine Beilage ediert, in der das Leben im Triest der "Grande Guerra" beschrieben wurde - und das, ohne vom "Völkerkerker" zu sprechen, mit dem ehedem die Monarchie perhorresziert wurde. Zu diesem Sinneswandel passt das neue Museum "Diego de Henriquez" in Triest, in einer ehemaligen k.u.k.-Kaserne: eine Privatsammlung zeigt historische, auch nicht-militärische Objekte aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, mit emotionslos fachlichen Beschreibungen.

Zum Wechsel des Gedenkens bleibt noch zu erwähnen, dass das "Museo Oberdan" in Triest aus Mangel an Besuchern geschlossen ist. Oberdan war jener Student, der 1882 beim Besuch Franz Josephs ein Attentat verüben wollte und hingerichtet wurde. Eine "Via Oberdan" finden wir aber weiter in jedem italienischen Städtchen.

2015: Neue Wege

Zu der hier apostrophierten "Entkrampfung" der Geschichtsbetrachtung und der nachbarschaftlichen Beziehungen tragen auch die Ausstellungen des Jahres 2014 in Bayern, Österreich und Italien bei und ebenso viele neue Bücher. Herausragend sind das Werk von Manfried Rauchensteiner: "Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie" und die synoptische Darstellung von Christopher Clark: "Die Schlafwandler", die alle Staatskanzleien Europas in die Schuld am Kriegsausbruch einbezieht. Beide Wissenschafter stellen die politischen, wirtschaftlichen Überlegungen und die "menschliche", psychologische Komponente über das früher dominante rein Militärische.

Dr. Gerhard Stadler, Sektionschef i.R., ist Hobbyhistoriker und Buchautor "auf rot-weiß-roten Spuren". 2015 veranstaltet Railtours Austria unter seiner Leitung Reisen zum Isonzo und nach Südtirol; Informationen unter Tel.Nr. 01 89 930 37 065, Frau Sokolowska.