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Die verlorene Wildnis

Von Walter Sontag

Artenschutz

In den letzten Jahrzehnten haben sich ehemals vertriebene Tiere in Europa wieder angesiedelt. Allerdings ist ihnen das natürliche Umfeld weitgehend abhanden gekommen.


Unser Globus ist ausgemessen, bis ins Detail abgezirkelt: von den Weltmetropolen bis in die fernsten Winkel des Himalaya, von der Kalahari bis ins Barriereriff. Damit ist auch die Wildnis, wie wir sie heute noch erahnen können, in die Ketten der menschlichen Ein- und Zuordnung gelegt.

Die uneinholbare, womöglich endlose Weite unberührter Landstriche ist der Ordnungs- und Herrschmanie von Homo sapiens erlegen. Google Earth führt es jedermann vor Augen. Handybotschaften vom K2, Massen- und Medienspektakel an den Polen zeigen den Blauen Planeten als winziges, durchgescanntes Sandkorn im All.

Domestizierter Raum

Wildnis, wo bist du geblieben? Schon lange überziehen dichte Wegenetze, Straßen- und Schifffahrtsrouten Mitteleuropa. Sie zerschneiden selbst traumverlorene, malerische bis herbe Siedlungsräume und eine einst üppig überquellende Natur. Landschaften wurden in minutiöser Kartographie im wahrsten Sinne klein gemacht, den Kategorien der menschlichen Grenzziehung unterjocht. In seinem Buch "Karte der Wildnis" bemerkt der britische Autor Robert Macfarlane, dass heute kaum ein Punkt im Vereinigten Königreich weiter als acht Kilometer vom nächsten befahrbaren Weg entfernt ist. Und überall in unseren Breiten das gleiche Bild: Auch in unseren vom Tourismus gefluteten Alpen, einem einstigen Naturraum, sieht es nicht viel anders aus.

Im zerstückelten und zunehmend domestizierten Raum ging es den ursprünglichen Geschöpfen an den Kragen. Arten wie Auer- ochs und Wisent wurden gänzlich ausgetilgt, das "Raubzeug", vermeintlich gefährlich und unwillkommen, in die entlegensten Gegenden des Alten Kontinents abgedrängt. So überlebten Wolf, Luchs und Braunbär in höchst bescheidener Stückzahl - möglichst weitab von der Zivilisation.

Dabei wird überdeutlich: Wildnis ist nicht nur eine fotografisch-ästhetisch fassbare Größe, sondern auch der Lebensraum von Kreaturen, die unserem Blickfeld normalerweise entzogen sind. Mit Fug und Recht lässt sich behaupten: Bestimmte Tierformen vollenden erst einzelne Landschafts- oder Wildnistypen, wie etwa der Wisent einst den ursprünglichen Wald Kontinentaleuropas, der Bison die Prärie oder der Löwe die Savanne.

Mit dem Begriff der Wildnis verbinden sich gegensätzliche Emotionen: Wildnis stößt ab, Wildnis zieht an. Nur zu schroff prallen unterschiedliche Wahrnehmungen und Auffassungen aufeinander. Für den weltordnenden Kulturmenschen gibt es hier bestenfalls Nützlinge und Schädlinge, Harmlose neben Bösen. Demnach reißen feindselige Bestien wie der Wolf oder der blutdurstige Luchs wehrlose Kitze und die vegetarischen Cousinen und Vettern von Bambi. Einzig der hierzulande nie völlig verschwundenen Wildkatze gilt ein ambivalentes Gefühl zwischen ablehnender Skepsis und distanzierter Bewunderung.

Rückkehr der Tiere

Nach dem Verständnis der modernen Biologie dagegen haben wir es mit Beutegreifern zu tun. Sie bilden in einem intakten Ökosystem das notwendige Korrektiv zu den Populationen der Pflanzenfresser. Und diese Einsicht gewinnt an Boden. Sie begünstigt, was man als Rückkehr der natürlichen Bewohner in ihre frühere Heimat bezeichnen könnte.

In den letzten Jahrzehnten begannen ehemals vertriebene Großtiere, verlorengegangenes Terrain in Europa wiederzubesiedeln. Der Trend zur Rückeroberung beruht allerdings nicht allein auf einem verbesserten Schutzstatus und auf größerer Toleranz durch die Menschengattung. Vielmehr vermochten sich offenbar viele Tiere an den menschengeprägten Kultur- und urbanen Lebensraum erfolgreich anzupassen. Wie anders ließe sich erklären, dass mittlerweile etliche für das Landleben prädestinierte Spezies tief in die Städte eindringen? Längst tummeln sich Füchse vor Downing Street 10 und dem Berliner Präsidentenpalast. Dachs, Marder und Turmfalke nisten sich mitten im Häusermeer der Ballungszentren ein, und das Ambiente gutsituierter Villenensembles scheint vor Eber und Wildsau nicht mehr sicher.

Andere Tiere freilich, deren Abwesenheit bis vor Kurzem nicht vorstellbar war, müssen weichen. Der Haussperling, bis dato allgegenwärtig, gehört in diese Rubrik, vom Verlöschen all unsrer Feld- und Wiesenvögel ganz zu schweigen. Wo könnten sie auch Nahrung finden? Insektizid- und herbizidbefeuert, lässt die Intensivwirtschaft in strauchloser Monotonie Unkräutern und Krabbelgetier keine Chance. Und in den Restbiotopen kahlrasierter Schrumpfgärten und krautarmer Parkgrün-Ensembles setzt sich die Misere fort.

Flaggschiff-Arten

Was aber beflügelt Goldschakal und Wolf, Biber und Luchs zur Rückeroberung? Und wo finden sie ihre neue Heimstatt? Es fällt auf, dass die Genannten nicht gerade kleine Arten repräsentieren. Das Gleiche trifft auf den wieder in den Alpen kreisenden Bartgeier und manche andere Arten zu. Deren Bestände haben in jüngster Zeit in unseren zersiedelten Landschaftsräumen zugenommen.

Haben die großen Vierbeiner und stattlichen Gefiederten im Menschenvolk einfach mehr Fürsprecher als die Zwerge, Unauffälligen und weniger Imposanten des Tierreichs? Waldrapp und Großtrappe hätten ohne den Status des Extravaganten wohl kaum eine Chance auf Wiederkehr und Überleben im nach-industriellen Menschenpark. Es sind derartige Flaggschiff-Arten, über die der Mensch seine schützende Hand zu halten bereit ist. Sympathien sind vor allem dann garantiert, wenn Eleganz oder gar technischer Erfindungsreichtum Rettungsakte begleiten oder erst möglich machen. Etwa die "lotsengeführten" Wanderungen schwedischer Zwerggänse und alpenländischer Waldrappe.

Demgegenüber dünnt das einst vielgestaltige Heer der Insekten, Spinnen und anderer unappetitlicher Störenfriede, die Wohnstuben und Küchen ehemals heimsuchten, Autofenster verschmutzten und dergleichen Unpopuläres anrichteten, aus. Von den Kleinvögeln war bereits die Rede. Zahlreiche ihrer Vertreter sind uns mehr oder weniger abhandengekommen, selbst in der Erinnerung sind sie schon Fremdlinge. Das Sterben in Böden und Gewässern indes vollzieht sich gänzlich im Verborgenen, vom Auge unbemerkt, ist allein in den Statistiken der Experten ablesbar.

Beinahe ausgestorben, heute wieder präsent: die Wisente. Rinie van Meurs/ NiS/Minden Pictures/ Corbis

Kein Zweifel: Das aktive, unmittelbare Eingreifen durch Gesetzgeber, Natur- und Artenschützer entscheidet maßgeblich über den Neuanfang der Rückkehrer und deren Aussichten. Das fängt beim Jagdrecht an und reicht bis zu den Ansiedlungsprojekten für manche Vertreter aus dem Organismenpotpourri. Wo wirkt, oder gar: wo herrscht da noch Wildnis per se? Selbst in den legendären Bialowieza-Niederungen, einem Urwaldrelikt beträchtlichen Ausmaßes, sehen sich Ranger und Jäger zum korrigierenden, rettenden Einschreiten gezwungen. In diesem polnisch-weißrussischen Grenzgebiet lassen sich noch am ehesten in unserer Nachbarschaft natürliche Verhältnisse finden. Hier horsten Schwarzstorch und Schreiadler, jagen Wölfe und Eber, verdunkeln Baumrecken den Wald. Vor knapp einhundert Jahren verendete hier der letzte frei lebende Wisent. Oder richtiger gesagt: der vorläufig letzte. Hätte der Frankfurter Zoodirektor Kurt Priemel, seiner Zeit weit voraus, nicht zu einem internationalen Zuchtprogramm aufgerufen, um die Art wäre es wohl endgültig geschehen gewesen.

Dem Wisent sollte es aber nicht ergehen wie drei Jahrhunderte früher seinem mächtigen Vetter, dem Ur oder Auerochsen. Die letzte Vertreterin dieser Spezies hatte 1627 in den Wäldern südlich von Warschau ihr Leben ausgehaucht.

In einer Zeit, in der Tierhalter ihre Pfleglinge noch als "Stücke" bezeichneten, trommelte der Frankfurter Tiergärtner Priemel die Wisenthalter zusammen. 1923 wurde in Berlin die "Internationale Wisent-Gesellschaft" gegründet. Es sollte das erste zoobasierte Zuchtprogramm einer seltenen Tierart werden. Dreißig Jahre später gelangten die ersten Nachkommen aus der Erhaltungszucht in die sumpfig-feuchten Bialowieza-Wälder. Die "heimgekehrte" Population vermehrte sich, die Wiederansiedlung in "freier Wildbahn" schien geglückt.

Aber nun zeigte sich, dass die Wildnis und ihr Funktionieren nicht einfach zu haben oder gar zurückzuholen sind. In diesem Paradebeispiel zwischen Warschau und Minsk war der renaturierende Mensch neuerlich gefordert. Ungewünschte Mikroben, die das männliche Geschlecht an dessen empfindlichsten Teil befielen, stellten das vermeintliche Gelingen auf einmal in Frage. Die erkrankten Stiere wurden mühsam ausgemerzt. Laissez-faire, also tatenloses Zuschauen, hätte womöglich allen vorausgegangenen Einsatz zunichte gemacht. Culling, d.h. gezieltes Töten zur Bestandskontrolle, gehört zum laufenden Geschäft der Naturschützer, ob unter Europas seuchengeplagten Wisenten oder überbordenden Elefantenpopulationen im südlichen Afrika. Massive Zufütterungen bilden vielerorts ein weiteres ernüchterndes Element im Jahreslauf des "Wildnismanagements" - allein dieser Begriff ist ein Paradox durch und durch.

Wie viel größer dürfte jedoch die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit für nutzungsfreie Refugien in unserem Sprachraum sein! So gibt es seit einigen Jahrzehnten das deutsche Projekt der Naturwaldzellen. Kleine Areale - in Wahrheit winzige Flecken - sollen, überall im Land verteilt, für Jahrhunderte sich vollkommen selbst überlassen bleiben.

Der Verlust der Stille

Und wie sind die Nationalparks einzuordnen? Der viel gerühmte Nationalpark Donau-Auen vor den Toren Wiens gibt ein verräterisches Zeugnis für mitteleuropäisches Naturerleben ab: ein schmaler Auwald-Streifen zwischen brausendem Twinliner-Schwappen und summend-dröhnendem Autorauschen. Wer derartige Areale als ungehinderte Natur feiert, hat den Abschied von der Wildnis längst vollzogen.

Stille gehört zum Charakterbild vieler ursprünglicher Naturräume. Macfarlane führt als überzeugendes Beispiel die Moorlandschaften und Weiten der menschenleeren schottischen Highlands mit ihren Lochs und Lochans an. Vielleicht ist gerade der Verlust der Stille das, was den Menschen am weitesten vom Ursprünglichen entfernt (hat). Freilich: Natur bietet auch das akustische Gegenteil oder Subtiles dazwischen: Meeresrauschen in einsamen Buchten, das prasselnde Wüten von Monsun und Zenitalregen, tosende Gewitterstürme über der grünenden Savanne, gellendes Tiergeschrei und sanftes Insektensummen, Zirpen und Vogelgesang. Das Ursprüngliche existiert eben im Plural, monoton bis polyphon.

Der ökonomischen Ausbeutung und menschlichen Umtriebigkeit weitgehend entzogen sind die politisch geschaffenen Grenzräume. Oftmals scheint hier die Zeit stehengeblieben. Eine derartige Zone inmitten Europas stellen die Gegenden entlang des einstigen Eisernen Vorhangs dar. Über Tausende von Kilometern bietet sich die langfristige Chance auf ein durchgehendes "Grünes Band" relativer Ruhe und vielfältiger, intakter Lebensräume. Forciert durch engagierte Naturschutzorganisationen und offizielle Stellen, ist man diesem Konzept schon recht nahegekommen. Gewissermaßen als Brennpunkte dienen in diesem Gürtel mannigfache, dezidiert ausgewiesene Reservate, etwa der Nationalpark am Neusiedler See. Das "Grüne Band" insgesamt lässt sich nicht nur als Rückzugsraum für die geschundene Natur interpretieren, sondern vielmehr auch als Brückenkopf für die unbestreitbare Tendenz der Rückeroberung, wie das Beispiel des Goldschakals zeigt.

Dieser pannonische Vertreter der Hundefamilie siedelte sich mittlerweile wieder im burgenländischen Nationalpark an. An diesem Identifikationsort des heimischen Naturschutzes offenbart sich beispielhaft der herausragende Rang der Tier- und Pflanzenwelt in unserer Vorstellung von einer Region. Selbst wenn uns die diversen Landschaftsszenarien sinnlich in ihrer ganzen Breite bedienen, so verkörpern doch jeweils ihre typischen Artvertreter sozusagen untrennbare Insignien. Im pannonisch-burgenländischen Fall sind das Störche, Trappen, Steppenrinder und so fort.

Aber nicht jeder Rückkehrer teilt hierzulande das Glück des Goldschakals. Ja man muss feststellen, die pannonische Alpenrepublik bildet für die rückkehrwilligen Wildtiere ein besonders schwieriges, geradezu unfreundliches Terrain. Während sich von Skandinavien bis zum Balkan die Bestände von Wolf, Luchs und Braunbär markant erholt haben, erweist sich der Raum zwischen Hochrhein, Thaya und March als Bollwerk gegen die Neuankömmlinge. Die kleine, mühe- bis liebevoll wieder angesiedelte Bärenpopulation fiel offenkundig heimischer Schießwut zum Opfer.

Der Wolf hingegen - seit geraumer Zeit in den Medien als Schrecken präsent (siehe dazu auch Seite 35) - hat in Wahrheit hierzulande überhaupt noch nicht Fuß fassen können. Anders etwa im benachbarten Deutschland, wo sich etliche Rudel auf stillgelegten oder intakten Truppenübungsplätzen und an ähnlich wolfsgenehmen Orten tummeln und munter fortpflanzen. Einen Hauch besser geht es im rot-weiß-roten Einzugsbereich den wieder eingebürgerten Luchsen. Trotz vieler Abschüsse halten sich zwei winzige Populationen der versteckt lebenden Raubkatze, davon eine in Wirklichkeit durch ihre bayerisch-tschechischen Rückzugsquartiere geschützt.

Angst vor dem Biber

Bezeichnend ist die hysterische Aufregung um einen anderen Heimkehrer, den wieder eingebürgerten Biber. Längst lässt die fleißige Verbisstätigkeit des Riesennagers und Ackerdiebs brave Bürger und Bauern erzittern. Die Wogen gehen hoch. Angst vor dem Ordnungsverlust, gar dem anarchisch Wilden und schnöder Mammon stehen neben dem oft sentimental geprägten Hang des urbanen Kulturmenschen zu "grünem" Naturerleben.

Unabhängig von solchem lokalen Klein-Klein nimmt zweifellos das ökologische Verständnis zu. Zumindest in den klassischen sowie aufstrebenden Industriestaaten (etwa China) wächst die Furcht vor einem generellen ökologischen Blackout und seinen Folgen. Das kommt weltweit letztlich auch den Artvertretern zugute, die als ausgewilderte oder einwandernde Rückeroberer in alt angestammte Verbreitungsgebiete zurückströmen - und geduldet werden.

Zu fragen bleibt freilich, warum viele Rückwanderer gerade in Österreich auf kaum überwindbare Hürden stoßen. Genau besehen ist selbst im Fall des populären Bartgeiers, der alpenweit ein Comeback feiert, Österreichs Bilanz regelrecht desaströs. Während sich die in die "Freiheit" entlassenen Vögel andernorts reichlich vermehren, überlebte bis vor Kurzem gerade eine Handvoll inländischer Nachkommen.

Literaturempfehlung
Robert MacFarlane: Karte der Wildnis. Aus dem Englischen von Andreas Jandl und Frank Sievers. Verlag Matthes & Seitz, Naturkunden, Band 18, Berlin 2015, 304 Seiten, 35,- Euro.

Autor
Walter Sontag, geboren 1951, ist Zoologe und schreibt als freier Autor über biologische, ökologische und kulturelle Themen; lebt in Wien.