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"Die eine Lösung, die für alle passt, wird es nicht geben"

Von Christa Hager

Autismus

Die Wissenschafterin Alice Laciny über Neurodiversität und das Schöne an Insekten.


Alice Laciny ist Insektenforscherin und Präsidentin des Österreichischen Entomologenverbandes. Vor einigen Jahren bekam sie eine Autismus-Spektrum-Störung-Diagnose. Im Interview spricht sie über ihr Interesse  an Insekten, über Neurodiversität und was es bedeutet, als Autistin in dieser Welt zu leben.

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Was fasziniert Sie an Insekten?

Zum einen ist die enorme Diversität der Insektenwelt unglaublich spannend – es gibt über eine Million beschriebene Insektenarten (und vermutlich noch viel mehr, die es noch zu entdecken gilt), und dadurch auch eine unglaubliche Vielfalt, was Aussehen, Ansprüche an den Lebensraum, ökologische Nischen etc. angeht. Mich persönlich spricht wohl die Morphologie am meisten an, also der Körperbau, die kleinteilige Zusammensetzung des Außenskeletts, die vielen verschiedenen Formen und Farben. Da mich Sprache ebenso begeistert wie Insekten, habe ich auch große Freude an der Benennung und Klassifizierung – sei es bei der Beschreibung und Namensgebung neuer Arten oder bei anatomischen Fachbegriffen. Wer Latein oder Griechisch mag, hat wohl mehr Spaß an der Entomologie.

© Harald Bruckner, NHM Wien

In Ihrem Artikel in "Psyche" schreiben Sie in diesem Zusammenhang sehr poetisch von einer "Magie". Könnten Sie dies für mich nochmals präzisieren? 

Ein entscheidender Faktor bei der Arbeit mit kleinen Objekten – wie etwa präparierten Insekten – ist das Sichtbarmachen jener Details, die der Mensch mit freiem Auge nicht erkennen kann. Zwei Ameisen mögen auf den ersten Blick völlig gleich aussehen, beide klein und braun. Im Mikroskop erkennt man dann feine Borsten, Muster in den Rillen des Panzers, Dornen am Rücken oder die einzelnen Facetten der Komplexaugen. Das ist einerseits für die Unterscheidung der Arten entscheidend, andererseits auch immer wieder ein schönes Erlebnis. In Wahrheit ist es natürlich bloß Optik und nicht Magie, aber das Wissen, dass so viel Schönheit selbst in den kleinsten Dingen steckt, wenn man nur genau schaut, hat (für mich) nicht nur wissenschaftlichen Wert sondern durchaus etwas fast poetisches. 

Sie haben in einem Interview einmal gesagt, dass man "als autistischer Mensch in dieser Gesellschaft fast notgedrungen traumatisiert wird". Weshalb?

Als gesellschaftliche Minderheit sind autistische Menschen dazu gezwungen, sich in einer Welt zurechtzufinden, die in vielen Fällen nicht für ihre Bedürfnisse ausgelegt ist. Das führt auf Dauer zu erhöhtem Stress durch sensorische und soziale Überlastung, und in weiterer Folge oft zu psychischen Problemen wie Burnout, Depressionen, Angststörungen oder gar PTBS. Diese Problematiken sind kein Teil des Autismus an sich, sondern ergeben sich oft aus dem "Masking" – also der gefühlten oder tatsächlichen Notwendigkeit, Symptome und Eigenheiten zu unterdrücken um den Anforderungen der neurotypischen Gesellschaft entsprechen zu können.

Welche Lösungen gäbe es Ihrer Ansicht nach dafür?

Die eine Lösung, die für alle passt, wird es nicht geben – individuelle Anforderungen sind so divers wie die autistische Community selbst. Was wohl helfen kann, ist generelle, wertfreie Aufklärung über die möglichen Barrieren (z.B. in der Schule oder am Arbeitsplatz) um mehr Akzeptanz für atypische Verhaltensweisen und Bedürfnisse zu schaffen. Nicht nur Insekten haben ökologische Nischen, auch Menschen können ganz verschiedene Ansprüche an ihren Lebensraum haben. Und wer sich weniger verstecken muss und individuelle Strategien der Selbstregulation (oft so simpel wie das Licht im Büro abdrehen oder im Unterricht mit Knetmasse spielen) entwickeln und ausleben darf, kann dem oft anstrengenden Alltag mit mehr Resilienz begegnen.

 Denken Sie, dass mittels mehr Bewusstsein des "double empathy problems" auch mehr Verständnis von neurotypischen gegenüber neurodiversen Menschen möglich wäre?

Ich denke generell, dass neurodivergenten Menschen oft schon damit geholfen wäre, das "Problem" oder den "Fehler" nicht automatisch auf ihrer Seite zu suchen. Die permanente Botschaft, dass das eigene Denken und Wahrnehmen prinzipiell defizitär ist, trägt massiv zur oben erwähnten psychischen Dauerbelastung bei. Das DEP ist hier ein schönes Beispiel für eine alternative Betrachtungsweise - anders heißt nicht immer schlechter und zur effektiven Kommunikation gehören immer (mindestens) zwei.

Natürlichen haben es Angehörige der gesellschaftlichen Mehrheit meist leichter, sich untereinander zu verstehen und ineinander hineinzuversetzen – je weiter die eigene Lebensrealität davon entfernt ist, desto schwieriger wird das. Umso wichtiger ist es, dass Menschen aus unterrepräsentierten Gruppen selbst zu Wort kommen und ihr Erleben der Welt schildern können, anstatt den Fokus auf scheinbare "Defizite" aus der Außenperspektive zulegen.

Neurodiversität zu fördern ist wichtig. Allerdings besteht die Gefahr, dass einerseits schwere Formen von Autismus "verharmlost" werden, und anderseits, dass auch die Probleme unterstützungsbedürftiger Autisten mit nicht so schweren Symptomen bagatellisiert werden und es gegebenenfalls schwieriger für diese wird, staatliche Unterstützung zu bekommen. Wie denken Sie darüber?

Die Grundidee der Neurodiversität (sensu Judy Singer) ist eine wertfreie Betrachtung der Vielfalt menschlicher Gehirne und ihrer Funktionsweisen. Die Tatsache, dass manche neurologischen Phänomene mit Einschränkungen einhergehen – sei es im gesellschaftlichen Kontext oder unabhängig davon – wird hier nicht negiert, das wird leider oft missverstanden. In diesem Zusammenhang werden gerne die Stärken und Talente neurodivergenter Menschen hervorgehoben, was als Gegenpol zum gängigen Defizitmodell natürlich wichtig und sinnvoll ist. Doch der Zugang zu benötigter Hilfe und der Abbau von Barrieren sind ebenso zentrale Elemente dieses Paradigmas. Respektvolle Anerkennung von Verschiedenheit heißt also nicht Verharmlosung realer Schwierigkeiten.

Im konkreten Fall von Autismus wäre es sicher hilfreich, von der Idee des linearen Spektrums abzukommen. Autismus ist ein multidimensionales Phänomen, das sich in der Alltagsrealität nicht so einfach in "leicht bis schwer" einteilen lässt. So können auch "hochfunktionale" Personen (persönlich würde ich es treffender als "high masking" bezeichnen) z.B. extrem sensibel auf Sinnesreize reagieren oder phasenweise auf nonverbale Kommunikation angewiesen sein. Und auf der anderen Seite kenne ich als "schwer" eingestufte Autist*innen, die nie sprechen, motorische Einschränkungen haben, aber geniale Blogs und Bücher schreiben. Demnach würde es für die Lebensrealität autistischer Personen oft mehr Sinn machen, den Zugang zu Unterstützung an tatsächliche, individuelle Bedürfnisse anzupassen.