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Wien macht blau

Von Dagmar Weidinger

Autismus

"Rainman’s Home" macht es möglich: Heuer beteiligt sich auch die Stadt Wien an der "Light It Up Blue"-Kampagne am Weltautismustag.| Ein Porträt des Vereins für autistische Menschen.


Blau ist die Farbe des 2. Aprils. Dies ist nicht etwa ein verspäteter Aprilscherz oder der Hinweis auf eine politische Partei. Blau ist die internationale Farbe des Autismus. Ähnlich wie das rote Band die Öffentlichkeit für den Kampf gegen HIV sensibilisieren soll, wollen Angehörige von Autisten durch die blaue Beleuchtung öffentlicher Gebäude den Blick auf jene Diagnose lenken, die zwischen 0,5 und 1% der Weltbevölkerung betrifft. Seit 2010, dem Jahr der ersten "Light It Up Blue"-Kampagne, erstrahlen Gebäude wie das Empire State Building in New York oder das Opernhaus in Sydney in Blau. Heuer wird sich zum ersten Mal auch die Stadt Wien anschließen.

Dass dies gelingen kann, ist maßgeblich auf die Bemühungen von "Rainman’s Home" im 18. Bezirk in Wien zurückzuführen. Die Räumlichkeiten des 1991 gegründeten Vereins bieten die Möglichkeit der Tagesstruktur für rund 40 autistische und auch für anders behinderte Menschen. Anton Diestelberger, promovierter Sonder- und Heilpädagoge und mehr als 40 Jahre lang Hauptschullehrer in Wien und NÖ, leitet das operative Geschäft des Vereins.

Wer dem agilen Pensionisten begegnet, spürt sofort, hier ist einer, dem seine Position eine Herzensangelegenheit ist. Diestelberger spricht langsam und wählt seine Worte mit Bedacht – später wird er erklären, dass lautes und deutliches Sprechen die Voraussetzung für eine gelungene Kontaktaufnahme mit Autisten darstellt. Der Pädagoge weiß, dass Dinge, die für Autisten lebensnotwendig sind, im Prinzip für alle Menschen hilfreich wären.

Stark durch eigene Betroffenheit

Gelernt hat Diestelberger all dies nicht nur an der Uni – 1977 erblickte sein Sohn René das Licht der Welt. Drei Jahre später wurde ihm die Diagnose "frühkindlicher Autismus" gestellt. Die zuerst kaum wahrgenommene Behinderung des eigenen Sohnes prägte den Lebensweg des pensionierten Lehrers. Bereits im Kindergarten zeigten sich Abweichungen von Renés Verhalten im Vergleich zu dem seiner gleichaltrigen Spielkameraden: Er fand wenig Zugang zu anderen Kindern, suchte fast ausschließlich die Nähe der Pädagogin und fiel durch sein aggressives Verhalten auf. Bald riet man den Eltern, eine Testung im neurologischen Krankenhaus am Rosenhügel durchführen zu lassen. Diese brachte Klarheit.

Wenn Anton Diestelberger heute über seine Annäherung an den Autismus spricht, wird das Ringen eines Vaters spürbar, der sich erst langsam mit seinem Sohn vertraut machen musste. Nicht nur fachliches Unwissen stand der großen Aufgabe zu Beginn im Wege. Jeder Elternteil, meint Diestelberger, möchte so lange wie möglich die Illusion aufrechterhalten, ein "ideales" Kind zu haben.

Den schmerzhaften inneren Prozess nach der Diagnosestellung umschreibt er gerne mit einer Metapher. Zuerst würde man als Vater oder Mutter gegen den Strom schwimmen, man wolle nicht wahrhaben, dass das eigene Kind spezielle Bedürfnisse hat. Wenn die Verzweiflung zu groß würde, fühle man sich wie von einem Strudel nach unten gezogen. Sei man schließlich ganz am Grund des Flusses angelangt, komme es darauf an, ob man es schafft, sich von dort abzustoßen. Wenn dies gelänge, so tauche man in ruhigerem Wasser wieder auf und könne ein Leben unter neuen Voraussetzungen beginnen.

Diestelberger begann sich schon bald intensiv auch wissenschaftlich mit dem Phänomen des Autismus auseinander zu setzen und promovierte zum Doktor der Sonder- und Heilpädagogik. Er wollte Mittel und Wege finden, die Welt mit den Augen seines Sohnes René zu sehen.

Die Diagnose ist nur ein erster, jedoch wesentlicher Schritt, der den weiteren Lebensweg eines Autisten und seiner Familie bestimmt. Während die ersten drei Lebensjahre bei vielen autistischen Kindern – wie bei René – unauffällig verlaufen, werden ab dann die Merkmale der "tiefgreifenden Entwicklungsstörung" sichtbar. Für Autisten ist es schwer, Kontakt zu anderen aufzunehmen und ihre Bedürfnisse auszudrücken. Außerdem entwickeln viele von ihnen eigene für die Außenwelt zumeist unverständliche, sich wiederholende Verhaltensweisen – ein leichtes Schütteln der Hand, eine bestimmte Kopfbewegung oder einfach nur ein rastloses Auf- und Abgehen.

Einige der autistischen Klienten des Vereins Rainman’s Home fallen in der Tat durch ihre große Kontaktscheue auf. Blickkontakt scheint sie zu verunsichern. "Viele Eltern glauben, sie tun ihrem autistischen Kind etwas Gutes, wenn sie es in einer solchen Situation alleine lassen, da es sich scheinbar ohnehin wohl fühlt mit sich selbst", meint die pädagogische Leiterin von Rainman’s Home, Therese Zöttl. Wird der Autist jedoch in der Isolation belassen, verstärkt sich seine Angst vor Kontakten und der Rückzug nimmt zu. "Förderung als Schutz und Chance", lautet deshalb auch das Motto der von ihr und Diestelberger geführten Einrichtung.

Die Geburtsstunde von Rainman’s Home

Diestelberger war wie viele andere Eltern über 30 Jahre der wichtigste Co-Therapeut seines Sohnes – eine Tätigkeit, die gelernt werden will. Sein eigener Weg führte ihn zu Beginn der 80er Jahre gemeinsam mit seiner Frau zu Elternrunden in das Autismusberatungszentrum Sobieskigasse. Dort lernte er das von der Universitätsprofessorin und Autismus-Spezialistin Brigitte Rollett und Ursula Kastner-Koller entwickelte Interaktions- und Kontakttraining (IKT) kennen, das Eltern für den Umgang mit ihren autistischen Kindern schulen sollte. Mit Hilfe von Videotraining übten Diestelberger und seine Frau deshalb ihre Sprache zu verlangsamen, langen Blickkontakt zu halten, überdeutliches Feedback zu geben und ihre Botschaften klar zu strukturieren – alles Elemente, die unerlässlich sind, wenn das Zusammenleben mit einem Autisten gelingen soll. "Einen Autisten kann man nicht nebenbei erziehen", meint auch Therese Zöttl. "Es ist eine schwierige und herausfordernde Tätigkeit, die man als Pädagoge wirklich wollen muss."

Auf der Suche nach einer Betreuungseinrichtung für seinen Sohn nach der Pflichtschulzeit gründete Diestelberger gemeinsam mit anderen Eltern 1991 den Verein Rainman’s Home. Der Name sollte an  jenen berühmten Hollywood-Film der 80er Jahre erinnern, in dem Dustin Hoffmann den hochbegabten Autisten Raymond spielt – ein Film, der zum Eisbrecher für die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Autismus wurde. Der Verein betreut heute bereits zwei Tagesstätten in Wien. Die 40 autistisch und anders behinderten Menschen werden hier nach dem vom Diestelberger und Zöttl entwickelten mehrstufigen Modell der Beschäftigungstherapie speziell gefördert. Die Klienten sind je nach individuellem Assistenzbedarf in drei Gruppen aufgeteilt. So gibt es einerseits die sogenannte Intensiv-Gruppe mit einem Betreuungsschlüssel von 1:2, in der es hauptsächlich um den Erwerb kommunikativer Fähigkeiten sowie den Umgang mit Aggression geht.

Hat ein Autist in der Gruppe gelernt seine Bedürfnisse auszudrücken, kann er in die Fördergruppe wechseln. Wer hier ist, weiß bereits, was er essen möchte, legt sich hin, wenn er Ruhe braucht, und hat gelernt seine Wünsche zu äußern oder: hat kommunikative und soziale Kompetenz erworben, um seine Wünsche zu äußern. Jeder Klient soll lernen seine individuellen kreativen Stärken zu entdecken. Die Aufteilung in Gruppen folgt dabei keinem starren Schema - im Gegenteil, täglich wird aufs Neue entschieden, in welche Gruppe sich jeder Klient je nach geplantem Inhalt am besten einklinken kann. Besonderer Stolz der Einrichtung ist die "Künstlergruppe Rainman", deren Produkte am alljährlichen Weihnachtsbasar verkauft werden. Schließlich gibt es noch die Möglichkeit des Besuchs der Werkstättengruppe, die mehr Selbständigkeit erfordert, was sich im Betreuungsschlüssel von 1:4 widerspiegelt. Die Klienten arbeiten hier mit Holz, Ton sowie im Garten. Auch leichte Haushaltstätigkeiten spielen eine Rolle.

Pädagogisches Erfolgsrezept

Besonderes Augenmerk legen Diestelberger und Zöttl auf die Zusammensetzung der Gruppen. So versucht man durch die Durchmischung mit Down-Syndrom-Klienten eine Atmosphäre des gegenseitigen Lernens zu schaffen. Während Autisten manchmal mit Aggression reagieren, sind Klienten mit Trisomie 21 oft sehr offen und herzlich – davon können Autisten lernen. Rainman’s Home ist heute in seiner Weise einzigartig in Österreich und vor allem für jene 90% der Eltern, die ihr autistisches Kind alleine erziehen, kaum mehr weg zu denken. Nicht zuletzt Autism Europe erkannte das Potential des Vereins und verlieh ihm 2012 als einzigem Verein in Österreich die Mitgliedschaft.

Nicht zuletzt für Diestelbergers Sohn René war der Verein über fast 20 Jahre wie ein zweites Zuhause – bis er vor zwei Jahren an einem epileptischen Anfall verstarb. Dem Vater riss es neuerlich den Boden unter den Füßen weg – der Tod kam plötzlich, auch wenn man die Gefahr lange gekannt hatte. Nach einem Trauerjahr begann sich Diestelberger jedoch von neuem zu engagieren. So gelang es heuer zum ersten Mal die Stadt Wien von der Aktion "Light It Up Blue" zu überzeugen: In der Nacht vom 1. auf den 2. April werden vier Donaukanalbrücken blau erstrahlen. Der Gründer von Rainman’s Home formuliert drei konkrete Ziele der diesjährigen Kampagne für Österreich: die Anhebung der Tagessätze, die der Verein benötigt, um die Betreuung seiner Klienten zu gewährleisten, eine bessere medizinische Versorgung von Autisten im Krisenfall ,was die gezielte Schulung von Krankenschwestern und Ärzten einschließt, und als Fernziel den Aufbau von Beratungszentren im gesamten Bundesgebiet. Als Trainer in der Erwachsenenbildung reist Diestelberger mittlerweile durch ganz Österreich, um sein pädagogisches Konzept eines wertschätzenden Umgangs mit Autisten weiterzugeben. Gerne vergleicht er den Kampf für die Integration von Autisten mit dem Kurswechsel eines Ozeanriesen – kein Prozess, der von heute auf morgen passieren kann, aber "Ausdauer und persönlicher Einsatz führen letztlich zum Ziel."

Mehr zum Thema im Dossier Rainman’s HomeSemperstraße 20, 1180 Wien
Telefon: 01/478 64 34Link http://www.rainman.at/