"Was wir sichtbar machen sollen ist nicht Finsternis, sondern Licht". Lehrer, Ärzte, Eltern verwenden zu viel Zeit auf das, was Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) nicht können. Aber was da ist wird gar nicht bemerkt, das, was Autisten gut können, nehmen sie kaum wahr". Der amerikanische Anthropologe Roy Richard Grinker weiß, wovon er spricht.

Seine Tochter Isabel wurde 1994 mit dem Kanner-Syndrom, der frühkindlichen Form von Autismus, diagnostiziert. In den ersten zwei Jahren schien alles ok, schreibt er. Bis das bisschen Sprache, das sie hatte, plötzlich verloren schien. Außerdem mied sie jeglichen Augenkontakt, auch zu ihren Eltern. Von Rückzug seiner Tochter zu sprechen sei aber falsch. Denn sie habe sich nie an der Gesellschaft beteiligt und könne sich daher auch nicht zurückziehen. Zuvor gab es unterschiedliche Diagnosen, unter anderem wurde sie als geistig zurückgeblieben erklärt.
Autisten denken in Bildern, sie brauchen klare Strukturen. Und sie fordern herkömmliche Sichtweisen der Welt heraus. Die britische Psychiaterin Uta Frith verglich das Gehirn von Autisten einmal mit laufenden Motoren, die sich nicht abstellen können, weil es keine zentralen Kommandostellen gibt. Autisten sehen dadurch zum Beispiel Details, die Nichtautisten gar nicht auffallen. Denn unser Sehen ist von Gewohnheiten, Routine, Konsens geprägt. Autisten aber teilen den Konsens nicht, was aber nicht bedeutet, dass ihre Wahrnehmungen weniger wert sind als unsere, betont Grinker. Autisten haben einfach eine andere Art der Intelligenz.
Egal in welchem Land, die AS-Störungen sind überall gleich, sie können sich während des Lebens ändern, manche verschwinden, manchmal kommen neue hinzu. Vor allem diejenigen Kinder, und Erwachsene, denen man ihre Wahrnehmungsstörung am wenigsten ansieht, leiden oft am meisten. Gibt es keine Diagnose, bleibt das Leiden unerkannt und geht weiter. Darum ist es wichtig, dass Autismus-Spektrum-Störungen als solche erkannt und diagnostiziert werden. Je mehr, desto besser, so Grinker. Denn erst seit er davon weiß, sieht er viel Autisten rund um sich. Tempel Grandin scherzte in diesem Zusammenhang einmal, dass die NASA wohl die größte "Tagesheimstätte" für Autisten sei.
Parallelen zu Linkshänder
Je mehr Autisten es offiziell gebe, desto mehr müssen sich auch Lehrer, Schulen und Behörden damit auseinandersetzen, betont der Anthropologe. Und so wären viele Eltern in ihrem Kampf um eine angemessene Ausbildung ihrer Kinder nicht mehr so sehr auf sich gestellt. Sie können sich besser organisieren und mit andern betroffenen Familien gemeinsam für die Rechte ihrer Kinder kämpfen. So geschehen etwa in Kalkutta, wo die Mutter eines autistischen Sohnes von der Einzelkämpferin und stigmatisierten Mutter zur Obfrau der landesweit größten Organisation für Unterstützung und Förderung von Autisten wurde.
Grinker findet ferner Parallelen zu Linkshändern: Man ist nie ganz sicher, aber mit der Zeit wird man besser. An den Schilderungen über die Entwicklung seiner Tochter werden ihre, oftmals sehr kleinen Fortschritte deutlich. Ebenso wie der Kampf der Eltern gegen die Behörden. So erzählt er von den vielen bürokratischen Hürden durch Schulverwaltung, von Gerichtsverhandlungen. Dabei vergisst der Autor nicht zu erwähnen, dass Unterstützungen und Hilfe auch immer eine Frage von Klasse ist: zum einen wegen der Kosten, zum anderen auch wegen des symbolischen Kapitals: als Universitätsprofessor argumentiere es sich eben leichter, wenn es um die Förderung der Tochter geht; man werde eher gehört und ernst genommen als etwa eine Arbeiterin.
Sozial- und kulturgeschichtlicher Kontext
Studien in den USA Und Großbritannien zufolge hat ein Kind von in 150 bzw. von 160 eine Autismus-Spektrum-Störung. Die Symptome sind wohl so alt wie die Menschen. Doch erst seit es einen Namen dafür gibt, sieht man Autismus auch. So unter nimmt der Autor eine historische Reise zurück bis ins Mittelalter, um anhand alter Erzählungen mögliche Autisten aus aller Welt in Erinnerung zu rufen. Er analysiert alte und neue Filme vor allem in Bezug auf den sozial- und kulturgeschichtlichen Kontext: "Victor" von Truffaut zum Beispiel oder den südkoreanischen Film "Marathon", der in Südkorea ähnlich sensibilisierende Wirkung hatte wie in den USA "Rainman".
Asperger vs. Kanner
Auch auf die "Entdeckungsgeschichte" von Autismus geht der Wissenschafter ein, vor allem auf die Pionierarbeit der beiden österreichischen Ärzte Leo Kanner und Hans Asperger. An dieser Stelle zeigt sich jedoch eines der wesentlichen Schwächen des Buches. Zum einen erwähnt der Autor hier mit keinem Wort die russische Neurologin Ewa Sutscharewa, die nachweislich bereits vor den beiden Männern in den 1920ern Symptome von Autismus phänomenologisch erforscht hatte. Außerdem pflanzt er die Fehlinformation weiter, der emigrierter Leo Kanner habe in den USA als erster autistische Zustandsbilder beschrieben. Man weiß, dass es umgekehrt war, und dass Kanner, wohl angeregt durch Aspergers Studien in Wien, zu ähnlichen Fallstudien angeregt wurde.
Diese Ungenauigkeit mag vielleicht kleinlich klingen, aber von einem Wissenschafter und Universitätsprofessor könnte man schon mehr Gewissenhaftigkeit verlangen.
"Kühlschrankmütter"
Ferner geht Grinker nicht darauf ein, das Verständnis der diagnostischen Einordnung sich in der Zwischenzeit geändert hat. Zwar besitzen die von Asperger beschriebenen Zustandsbilder nach wie vor Gültigkeit, doch rund ein Drittel aller Fälle, die der Heilpädagoge Zeit seines Lebens mit dem Etikett "autistische Psychopathen" versah, würde heute nicht mit dem Asperger-Syndrom, sondern mit anderen Störungen innerhalb des Autismus-Spektrums diagnostiziert werden.
Stellenweise witzig zu lesen sind vor allem die gegenseitigen Vorurteile zwischen Amerikanern und Franzosen in Sachen Psychoanalyse und Psychotherapie, die Grinker anführt. Denn in der Grande Nation wurde bis 2004 Autismus noch als Psychose, als Resultat einer nicht gelungenen Entkoppelung und einer angeblichen emotionslosen, kalten Mutter, klassifiziert. Frankreich sei eben nach wie vor stark von Lacan geprägt, den zwar viele lesen, aber wenige verstehen, scherzt er. Das Stereotyp der Kühlschrankmütter sei bei der Suche nach den Ursachen von Autismus aber auch in Südkorea weiterhin stark verbreitet. Dort übt die Gesellschaft einen großen Druck auf Mütter aus, wenn Kinder nicht so erfolgreich sind, wie es viele gerne hätten.
Zwar liefert das Buch interessante Einsichten in die unterschiedlichen kulturellen Sichtweisen über Autismus, der Umfang dazu fällt aber enttäuschend aus. Nur ein Drittel des Buches widmet er sich wirklich diesem Thema. Grinkers Schilderungen über die Erfahrungen und Kontexte von Eltern in Kenia, Indien, Südkorea werden den Erwartungen, den der Klappentext verspricht, nicht gerecht. Da ändern auch die kleinen Häppchen an Details nicht, die er präsentiert: Traditionelle Heiler in Südafrika, die Autismus-Diagnosen stellen oder dass autistische Kinder in Senegal "Nit-Ku-Bou", wunderbare Kinder, genannt werden.
Die Mär von den Impfungen
Trotz dieser Mängel liefert das Buch einen erfrischenden und lehrreichen Zugang zu diesem Thema. Er verpackt viele wissenschaftlich und medizinische Informationen in einen leicht lesbaren Stil und ermöglicht einen umfassenden Überblick über die vielen Facetten von ASS: "Unstrange Minds", bisher leider nur auf Englisch erschienen, scheut aber auch nicht vor tabuisierten Fragen zurück, etwa wenn es um die Sorgen von Eltern geht, was nach ihrem Ableben mit ihrem autistischen Kind passieren wird. An manchen Stellen sind Grinkers Erläuterungen redundant, was vielleicht daran liegen mag, dass ihm gewissen Themen eben sehr wichtig sind, wie etwa die nach wie vor weit verbreitet Mär, dass Impfungen für Autismus verantwortlich sei. Der Autor führt viele überzeugende Argumente dagegen an und betont, dass es bis heute keinen einzigen Beweis dafür gibt.