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Die Perspektive der Spezialisten

Von Benjamin Schacherl

Autismus

Menschen mit Autismus finden nur schwer einen Job. Das soziale Unternehmen "Specialisterne" will das ändern.


Wien. Fällt der Blick von Johannes Klietmann auf ein Haus, springt ihm meistens ein Detail, zum Beispiel ein Fenster, ins Auge. Schaut Herr Klietmann eine Straße entlang, fällt es ihm schwer, die ganze Straße auf einmal im Ganzen zu betrachten. "Mein Unterbewusstsein leitet mehr an das Bewusstsein weiter, als es verarbeiten kann. Der Vorteil ist, dass mir manche Dinge stärker auffallen", sagt Klietmann. Es sind genau jene Eigenschaften, die man Menschen mit Autismus oftmals zuschreibt.

Klietmann erhielt seine Autismusdiagnose vor zwei Jahren, im Alter von 32 Jahren. Zuvor hat er an der Universität Wien einen Doktorabschluss in Paläobiologie absolviert. Die Art, wie autistische Menschen die Welt sehen, stimme nicht mit der neurotypischen Wahrnehmung überein, erklärt er. "Es ist daher nicht so leicht, einen Gedanken eins zu eins zu übernehmen. Das ermöglicht es aber, Vorgänge neu und anders zu betrachten", sagt er.

In Österreich gibt es rund 90.000 Autisten. Nicht alle sind so talentiert wie Klietmann. Er hat das Asperger-Syndrom, eine von vielen Autismusformen. Menschen mit dem Asperger-Syndrom sind durchschnittlich bis überdurchschnittlich intelligent. Mit "Specialisterne" gibt es ein Unternehmen, das Fähigkeiten wie hohe Konzentrationsfähigkeit und außerordentliche Präzision aufgreifen und nützen möchte, um Menschen mit autistischer Wahrnehmung einen Job zu vermitteln.

Hürden und Konventionen

Specialisterne wurde 2004 von Thorkil Sonne in Dänemark gegründet. Der dänische Firmenname bedeutet "Spezialisten". Sonne hat einen autistischen Sohn, der einerseits herausragende Fähigkeiten, andererseits aber mit jenen Problemen zu kämpfen hat, mit denen Autisten oftmals konfrontiert sind. Sonne wollte die schlechten Jobchancen von autistischen Menschen nicht hinnehmen. Er gründete Specialisterne und verfolgt seitdem das Ziel, weltweit einer Million Autisten einen Arbeitsplatz zu verschaffen. Und zwar im ersten, also regulären Arbeitsmarkt, nicht in geschützten Werkstätten.

Die größte Hürde für Menschen mit Autismus stellt das klassische Bewerbungsgespräch dar. "Daran scheitern 80 Prozent der Autisten", sagt Specialisterne Österreich-Geschäftsleiterin Bettina Hillebrand. "In der Regel sind das keine Menschen, die sich gut präsentieren können." Es sei schade, dass Menschen, die in anderen Bereichen hochqualifiziert sind, an sozialen Konventionen und der mangelnden Fähigkeit zum Smalltalk scheitern würden.

Den österreichischen Ableger gibt es seit Ende 2012. Zunächst wurde ein Verein gegründet, seit 2014 ist Specialisterne ein Unternehmen mit Sitz im vierten Wiener Bezirk. "Zu Beginn war die Idee sehr stark sozial und weniger von einem Businessgedanken geprägt", erzählt Kuno Gruber, Teil der Geschäftsführung und Coach bei Specialisterne. Man sei dadurch gegenüber Firmen schnell in die Position eines Bittstellers gekommen. "Das haben wir in den letzten Jahren geändert". Dem Projekt, Menschen mit Autismus ins Unternehmen aufzunehmen, würden die Firmenvertreter rasch mit viel Sympathie gegenüber stehen. "Aber wenn es konkret wird und dann auch um das Monetäre geht, hat es oft schon ganz anders ausgesehen", erzählt Gruber. Die vorherrschende Gesinnung sei leider, dass alles, was aus dem Sozialbereich kommt, nichts kosten darf. "Deswegen haben wir uns dazu entschieden, stärkenorientiert zu arbeiten." Seitdem ist Specialisterne ein "Social Business". Derartige Unternehmen setzen sich zum Ziel, gesellschaftliche Problemstellungen mit wirtschaftlichen Mitteln zu bearbeiten. Die Betreuungs- und Vermittlungsleistung von Specialisterne wird von den Unternehmen bezahlt. Mittlerweile gibt es bei Specialisterne sechs Mitarbeiter im Kernteam, darunter eine klinische Psychologin und zwei Coaches. Diese sind für den Vermittlungsprozess maßgeblich verantwortlich.

Mögliche Arbeitsfelder

Laut Specialisterne bewerben sich pro Jahr etwa 80 Personen um die Ausbildungsplätze. (Alle Menschen über 18, bei denen Autismus diagnostiziert wurde, können sich melden.) Rund die Hälfte davon kommt ins Vermittlungsprogramm. Die meisten der aufgenommenen Bewerber sind Menschen mit dem Asperger Syndrom, wie Hillebrand erzählt. Mit dem Slogan "Liebe zum Detail" möchte das Unternehmen die Stärken seiner Mitarbeiter hervorheben. "Die meisten Menschen mit Autismus haben Genauigkeit und eine Detailfokussierung stärker ausgeprägt als neurotypische Menschen", sagt Hillebrand. Dadurch könnten leichter Abweichungen von einer bestimmten Normvorstellung, etwa in Produktionsabläufen, erkannt werden. "Die Gabe zur Mustererkennung geht häufig mit einem sehr guten analytischen Verstand einher", sagt Hillebrand. Diese Fähigkeiten würden Kandidaten von Specialisterne für Arbeitsplätze in der Qualitätssicherung äußerst geeignet machen.

Abgesehen davon sind die meisten der vom Unternehmen vermittelten "Spezialisten" in der IT-Branche, vor allem im Bereich der Softwaretests, oder in administrativen Jobs, zum Beispiel in der Lohnverrechnung oder der Buchhaltung, tätig. "Unsere Kandidaten sind überall gefragt, wo Kontrolle und exaktes Arbeiten gefragt sind", sagt Hillebrand. Im Schnitt werden nach Unternehmensangaben jährlich fünfzehn bis zwanzig Personen an diverse Firmen vermittelt.

Zum Vorstellungsgespräch werden die Firmenvertreter immer in die Räumlichkeiten von Specialisterne eingeladen, damit sich die Kandidaten in einem gewohnten Umfeld präsentieren können. "Beim Bewerbungsgespräch ist auch immer jemand von uns dabei. Da lassen wir niemanden allein", sagt Hillebrand. Zuvor gibt es wochen- oder monatelange Trainingseinheiten, bei denen nicht nur die kognitiven Fähigkeiten weiter gestärkt werden, sondern auch Bewerbungsgespräche simuliert werden. Klietmann, der für Specialisterne mittlerweile sogenannte "Querdenker"-Workshops im Bereich des Innovationsmanagements hält, sagt: "Man kann soziale Interaktion lernen. Bis zu einem gewissen Grad bleibt es zwar eine Fremdsprache, aber auch eine Fremdsprache kann man lernen."

Kommt es zu einer Anstellung, kümmert sich Specialisterne auch um die anfängliche Begleitung im Unternehmen. Nach den ersten zwei Wochen leiten die Trainer einen Workshop in der jeweiligen Firma, an dem sowohl der neue Mitarbeiter als auch das Team teilnimmt. "Wir erklären kurz, was Autismus ist und dann geht es darum, dass das Team zueinanderfindet und Regeln für den Umgang festgelegt werden", erzählt Hillebrand. "Unserer Erfahrung nach macht es schon einen riesigen Unterschied, wenn ein bisschen Bewusstsein vorhanden ist. Dann gibt es eigentlich keine Probleme", sagt sie. Klietmann wünscht sich eine differenziertere Betrachtung von Menschen im Autismusspektrum. "Ich verstehe die Faszination für etwas, das anders ist. Aber es gibt etwas zwischen den Extremen: ‚das sind die Behinderten‘ und ‚das sind die Supergenies‘", sagt er.

Fehlende Gesinnung

Bislang konnte Specialisterne Österreich nach Unternehmensangaben fast einhundert Menschen mit Autismus einen Job im ersten Arbeitsmarkt vermitteln. Jene, die keinen Platz im Vermittlungsprogramm bekommen, werden an Institutionen im Bereich der Arbeitsassistenz verwiesen.

Specialisterne und die IT-Firma Nagarro, eines der Partnerunternehmen, sind derzeit auf der Suche nach Kandidaten für die Ausbildung zum zertifizierten Softwaretester. "Menschen mit Autismus sind dafür sehr gut geeignet, da sie aufgrund ihrer Fähigkeiten rasch Fehler entdecken", sagt Renate Weichselbraun von Nagarro. In den vergangenen beiden Jahren sei knapp die Hälfte der Teilnehmer erfolgreich vermittelt worden. "Das ist im Bereich von Langzeitarbeitslosen und Autisten ein extrem hoher Wert", sagt Weichselbraun.

Damit Ausbildungsangebote wie der Kurs zum Softwaretester ausgebaut werden können, wären neben der eigenen Finanzierung und den bereits bestehenden Förderungen weitere finanzielle Unterstützungen hilfreich. "Jeder will sich Vielfalt auf die Fahnen schreiben, aber so richtig wird es von der Politik nicht gefördert", sagt Specialisterne-Geschäftsführer Kuno Gruber. "Investoren schauen zuerst auf andere Bereiche, bevor sie soziale Unternehmen berücksichtigen. Das sollte von der Politik gesteuert werden. Aber da fehlt leider noch die Gesinnung, dass soziale Unternehmen einen Mehrwert bieten." Es gebe auch immer wieder Anfragen aus anderen Städten. Deswegen möchte Specialisterne in den nächsten Jahren einen Standort in Graz oder Salzburg erschließen, um auch dort Menschen mit Autismus in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln.

Mehr zum Thema Autimus in unserem Dossier.