Wer durch die neuen deutschen Bundesländer fährt, dem fällt auf, dass die Landschaft anders kultiviert ist, als es das Auge gewohnt ist: Weizen-, Raps-, Maisfelder und Futterwiesen, soweit der Blick reicht. Es ist ein Vermächtnis von 40 Jahren DDR. Sie machte aus privatem Bauernland riesige Agrarflächen für - damals staatlich gelenkte - Produktionsbetriebe, eine Wirtschaftsform, die noch heute im Osten Deutschlands vorherrscht.
Drei Generationen von Vorsitzenden in Freizeitjacken sitzen um einen ovalen Tisch der "Agrargenossenschaft Oberwiera e.G." bei Kaffee und Mineralwasser: Waldemar Siewert, einst linientreu, war der erste Chef der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG), zwischen 1954 bis 1966: trotz seiner 87 Jahre agil, mit Hörgerät und strubbeligem weißem Haar. Manfred Kipping, sein Nachfolger, leitete den Betrieb bis zur Wende, kein Parteigänger, sondern einer, der das Überleben im System ohne Konfrontation suchte: Er erinnert im Äußeren entfernt an Manfred Stolpe, den früheren brandenburgischen Ministerpräsidenten. Schließlich Roland Graichen, Vorsitzender nach der Wende und aufgrund seines Engagements in der evangelischen Kirche davor bestimmt nicht auf einem solchen Posten denkbar.
Praktikant Hofer

Franz Hofer, der Besuch aus Österreich, dessentwegen sie heute hier zusammengekommen sind, reicht ihm gerade bis zur Schulter. Vor 50 Jahren, im Sommer 1961, war der damals 25-jährige Hofer zum Praktikum auf die damalige LPG "Freundschaft" in Oberwiera in Sachsen gekommen. Der erste und einzige Landwirtschafts-Praktikant der DDR aus dem kapitalistischen Ausland.
Hofer steckte damals in der Landwirtschaftsausbildung am Francisco-Josephinum im niederösterreichischen Wieselburg. Auf der Welser Landwirtschaftsmesse war ihm die Präsentation der DDR aufgefallen, die mit den Worten "Wo die Bauern Millionäre sind" überschrieben war. Dieses agrarische Schlaraffenland wollte er näher kennenlernen. Er meldete sich für ein Praktikum und bekam einen Platz in Oberwiera zugewiesen, das nicht nur ein Aushängeschild, sondern auch Ausbildungsstätte des Arbeiter- und Bauernstaates war.
"Wir hatten ein gutes Verhältnis", sagt Waldemar Siewert. "Der Franzl war auch in dem ganzen Kollektiv gut aufgenommen worden." Heute traut sich "der Franzl" Dinge aufgrund des Abstands der Zeit und der geänderten Verhältnisse offen auszusprechen: "Ich habe gesagt: Der Siewert, der ist überzeugt, der glaubt dran." Dieser sagt nichts dagegen, legt lediglich die Hand als Trichter hinters Ohr, um nichts zu überhören, was gegebenenfalls doch zum Widerspruch herausfordern könnte.
Nach dem Krieg war er nach Oberwiera gekommen und hatte 1953 die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft gegründet: 120 Hektar, 18 Mitarbeiter, der frühere Eigentümer wurde sein Stellvertreter. Dass sich die "Freundschaft" zu einer Vorzeige-LPG mit guten Ergebnissen entwickelte, mag daran liegen, dass Siewert nicht wie anderswo in der DDR darangegangen war, die Bauern in die Genossenschaften zu zwingen, sondern versucht hatte, sie in unzähligen langen Gesprächen zu überzeugen und ihnen eine Perspektive im Betrieb zu verschaffen. "Das ist dem Waldemar sein Verdienst, der ist ordentlich umgegangen mit den Leuten", konzedieren ihm die anderen am Tisch.
1961 kam die Zäsur? "Nö", sagen die Männer, den Mauerbau habe man hier im tiefen Ostdeutschland nicht so recht registriert. "Aus bäuerlicher Sicht war die revolutionäre Zeit 1960", sagt nach einigem Nachdenken Manfred Kipping, womit er den sogenannten "sozialistischen Frühling" meint. "Eigentümer waren wir ohnehin nicht mehr. Da hatte der Mauerbau keine Bedeutung. Der entscheidende Punkt war für uns, dass wir in die LPG eintreten mussten." "Mussten", echoen die anderen nachdrücklich.
Franz Hofer war im August 1961 bereits einige Wochen in Oberwiera. Er hatte sich seinen Arbeitsplatz aussuchen dürfen und sich zur Traktorenbrigade gemeldet. Hätte er die Stallarbeit gewählt, wäre er wochenlang nicht vom Hof gekommen. Und da die LPG mehrere Gemeinden umfasste, rechnete er sich aus, als Traktorist einiges von der Gegend und dem Leben dort zu sehen.
"Zuerst haben alle sehr dienstlich mit mir gesprochen, weil sie meinten, ich wäre von der österreichischen kommunistischen Partei delegiert gewesen", erinnert sich Hofer. Das habe sich aber schnell gegeben. In den Pausen sei stets politisiert worden. Nur wenn Parteinahe den Raum betreten hätten, wäre blitzartig das Thema gewechselt worden und man habe über Frauen gesprochen.
Der 13. August 1961 war ein Sonntag, und Franz Hofer hatte frei. Er war nach Leipzig gefahren, um sich die Stadt anzusehen. Aus den öffentlichen Lautsprechern erfuhr er dort erstmals von den Vorgängen in Berlin, vom Mauerbau. Zwischen Marschmusik zwängte sich die Rechtfertigung des Regimes für die Errichtung des "antifaschistischen Schutzwalls gegen die Saboteure". Angst? Er kann sich nicht an ein solches Gefühl erinnern. Im Gegensatz zu seinen Angehörigen in Oberösterreich, die fürchteten, er werde nun nicht mehr ausreisen dürfen. Die gedrückte Stimmung im Betrieb tags darauf sei ihm aber noch gegenwärtig, sagt Hofer. Einer habe gesagt: "Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich noch gestern abgehauen." Nach ein paar Tagen wäre ein Teil der Antennen von den Dächern im Dorf entfernt worden.