Stockholm. Es ist eine Entscheidung, die für gespaltene Reaktionen sorgt. Sie hat eine höchst kontroversielle Diskussion darüber ausgelöst, welche Formen von Textgebilden heute die Bezeichnung Literatur für sich beanspruchen dürfen. Und darüber, was der Preis an sich denn noch bedeutet. Literaturnobelpreisträger Bob Dylan? Die Kommentare dazu rangierten nach der Bekanntgabe der Schwedischen Akademie zwischen genial und fatal.
Literaturkritikerin Sigrid Löffler etwa hat die Wahl als "fantastische Fehlentscheidung" kritisiert. Sie habe den Eindruck, dass die Schwedische Akademie sich seit einiger Zeit interessant machen wolle, "und zwar durch besonders ausgefallene und extravagante Namen, die sie da kürt". Dylan habe rätselhafte, dunkle und sehr komplexe, symbolistische Texte geschrieben, diese seien aber keine eigenständige Lyrik, denn sie funktionierten nur gesungen. Nicht nur Dylan-Befürworter werfen Löffler stellvertretend für eine ganze Zunft vor, an einem verstaubten Literatur-Begriff festzuhalten. Beklagt sich nicht eine ganze Generation von Kritikern darüber, dass es kaum noch Lyriker gebe? Und schon gar niemanden, der noch Gedichte lese? Dass es Literatur heute an wortgewaltigen Sprachbildern fehle? Was, wenn der Songtext die neue Lyrik wäre?, lautet die Gegenargumentation. Und klingt nicht schon im Begriff Lyrik Musik an? Schließlich verweist er auf das antike Zupfinstrument Lyra.
"Brillanter Erbe der
bardischen Tradition"
Doch die Debatte hat weit mehr Facetten: Der indisch-britische Autor Salman Rushdie bezeichnete Dylan als "brillanten Erben der bardischen Tradition" und lobte die Wahl. Andere Literaten äußerten sich jedoch kritischer. "Niemand bestreitet, dass er ein genialer Musiker und ein großer Dichter ist", schrieb der rumänische Schriftsteller Mircea Cartarescu auf Facebook. "Aber es tut mir so leid um die wahren Schriftsteller, Adonis, Ngugi, DeLillo und weitere 2-3, die den Preis beinahe in der Tasche hatten." Der britische Schriftsteller Irvine Welsh schrieb auf Twitter: "Ich bin ein Dylan-Fan, aber dies ist ein schlecht durchdachter Nostalgie-Preis."
Neben den Grenzen von Literatur oder Nicht-Literatur wird jedoch auch die politische Symbolkraft dieser Entscheidung diskutiert, vor allem in den internationalen Medien. Dabei geht es nicht um die Würdigung von Dylans Bekenntnis zum Pazifismus, sondern um das Signal, das die Nobelpreisakademie damit zu setzen gedenkt. Es seien zuletzt rund um den Präsidentschaftswahlkampf vor allem hässliche, allzu laute und polemische Töne aus Amerika zu uns gedrungen, analysiert etwa die "Neue Zürcher Zeitung". Sie sieht Dylans Kür als Versuch, einer anderen Stimme Nachhall zu verschaffen: "Einer Stimme, die weltweit trägt, auch wenn sie das Laute, Penetrante meidet."
Ähnlich argumentiert auch die italienische "Repubblica": "In diesen traurigen Tagen, in denen die amerikanische Politik der Welt ihr hässlichstes Gesicht zeigt, holt der Nobelpreis das beste Gesicht des Landes aus dem Halbdunkel hervor: Das von Bob Dylan, dem großen Poeten der Musik." Es sei ein Zeichen für "die kulturelle Großmütigkeit Amerikas, die heute von Angst, Groll und giftigem Populismus bedroht wird". Kritischer wurde Dylans Kür dagegen in Spanien kommentiert: "El Mundo" schreibt, "es wäre übertrieben, zu behaupten, dass der diesjährige Literatur-Nobelpreis eine Herabwürdigung der Institution bedeutet, wie die schärfsten Kritiker meinen. Aber die Entscheidung der Akademie erscheint uns in der Tat nicht die treffendste."
Was auch immer man von der aktuellen Nobelpreis-Entscheidung halten mag: Die Leidenschaft, mit der dieser Tage über Literatur gestritten wird, straft wohl jeden Kulturpessimisten Lügen, der mit Dylan als Preisträger den Tod der Literatur herannahen sieht.
"Warum versuchen,
mich jetzt zu ändern"
Der Einzige, der in der aufgeregten Geschwätzigkeit bisher schweigt, ist der Laureat selbst. Auch die Jury konnte den als Robert Allen Zimmerman in Minnesota geborenen Musiker vorerst nicht von ihrer Wahl in Kenntnis setzen. Man gehe davon aus, dass der Preisträger durch die Medien von seinem Glück wisse, sagte Nobeljuror Per Wästberg. Bei einem Konzert am Donnerstag in Las Vegas zeigte sich die 75-jährige Rocklegende unbeeindruckt, ging mit keinem Wort auf die Auszeichnung ein und ignorierte auch die "Nobelpreisträger"-Schreie aus dem Publikum. Bei den Zugaben wich Dylan allerdings vom Programm eines vorherigen Konzerts ab und spielte seine Protest-Hymne "Blowin’ In The Wind" und beendete seinen Auftritt mit einem Song, den Frank Sinatra einst sang: "Why Try To Change Me Now". Manchmal ist mit konsequentem Schweigen alles gesagt.