Was hat 9/11 mit Bob Dylan zu tun? Nun, an jenem tragischen Tag des Jahres 2001 erschien in den USA "Love And Theft", das erste Album des unbändigen Troubadours im neuen Jahrtausend. Und auch heuer hat sich Dylan für sein lang erwartetes neues Werk, "Tempest", dieses bedeutungsschwangere Datum ausgesucht. In Europa erscheint die CD bereits am heutigen Freitag. Von vielen Kritikern wurde sie schon vor dem Erscheinen in höchsten Tönen gelobt. Es sei, so die durchgängige Meinung vieler, das beste Album des Künstlers seit mehr als einem Jahrzehnt.

Die Zeit zum Abdanken ist noch nicht da - Bob Dylan meistert jeglichen Sturm. - © Sony Music
Die Zeit zum Abdanken ist noch nicht da - Bob Dylan meistert jeglichen Sturm. - © Sony Music

Doch allzu enthusiastische Rezensionen sollten den Hörer - auch wenn sie breit gestreut sind - eher vorsichtig machen, wie auch Dylan- und Musik-Forscher Michael Gray ("The Bob Dylan Encyclopedia", "Song And Dance Man: The Art Of Bob Dylan") auf seinem Blog feststellt. Ein Lobgesang im Musikmagazin "Mojo" hat den Dylanologen alarmiert.

Zusätzliches Charisma

Also werde ich an dieser Stelle einmal mit einer nüchternen Feststellung zum Album beginnen: Dylans Stimme hat sich gegenüber den letzten Alben nicht weiter verschlechtert. Wer Dylan in den letzten Jahren bei Konzerten erlebt hat, wird sich darüber freuen. Klar verständlich singt sich "The Mighty Zim", wie er in der US-Presse genannt wird, durch die zehn Songs des Albums. Geradezu bemüht artikuliert er sich, sodass die gebrochene Stimme kaum ins Gewicht fällt und den Songs eher noch ein zusätzliches Charisma verleiht.

Die zehn Nummern überraschen, speziell auch angesichts der Vorberichterstattung. Wer sich ein Abschiedsalbum mit Todesahnungen und dunkler Stimmung erwartet hat, kann sich nur wundern. "Tempest" ist ein typisches Dylan-Album in bester Tradition von Werken wie "Desire" oder "Infidels". Lange Balladen, die die Zehn-Minuten-Grenze auch überschreiten, faszinierende Texte, die sich mit Schwergewichten des Dylan-Oeuvres wie etwa "Desolation Row" oder "Joey" messen können.

Zu erwarten war dieses regelrecht aufmüpfige künstlerische Aufbegehren so nicht mehr. Nach dem drolligen "Christmas In The Heart" hatte man den Künstler vielfach bereits abgeschrieben. Dylan sang Weihnachtssongs - damit schien der einstige Protestsänger für manche seinen Zenit überschritten zu haben.

"It’s soon after midnight and my day has just begun", singt er nun im Song "Soon After Midnight". Und diese Zeilen kann man durchaus für die Karriere des Künstlers nehmen, der mit 71 Jahren schon längst die Mitternacht seines Schaffens überschritten hat. Das Lied selbst ist ein sanftes Liebeslied à la "I’ll Be Your Baby Tonight" - inklusive Mord, wie schon in "Romance in Durango" vorexerziert. Dazu eine einfühlsame Band, die den Song in einem Fifties-Sound kleidet.

Für "Tempest" hat Bob Dylan auf seine Tour-Band zurückgegriffen. An den Gitarren werken Charlie Sexton und Stu Kimball, an der Steel-Gitarre agiert Donnie Herron, am Schlagzeug sitzt wieder George G Receli und den Bass zupft Tony Garnier. Zusätzlich ist, wie auch beim letzten Studio-Album "Together Through Life", David Hidalgo mit seinem Akkordeon mit dabei. Als Produzent ist einmal mehr ein Mann am Werk, dem der Altmeister blind vertraut: Jack Frost alias Dylan selbst.

Tribut an John Lennon

Das Ergebnis ist musikalisch überzeugend. Schon der Auftaktsong "Duquesne Whistle" wirbelt den Zuhörer mit seinem treibenden Sound ordentlich durcheinander. Darin singt Dylan die Zeilen "Listen to that Duquesne whistle blowin’/ Sounds like it’s on a final run". Doch vom letzten Gang will "Onkel Bob" nichts wissen. Das dazugehörige Video hat mit seiner brachialen Handlung (ein junger Mann, der einer Frau den Hof macht, landet mit gebrochenen Kniescheiben am Trottoir) für Aufregung gesorgt. Es scheint sich dabei um eine Abrechnung mit stalkenden Fans zu handeln, die Dylan nerven und mitunter sogar gefährlich werden.

Die Eingangssequenz, mit einem John-Lennon-Plakat, verdeutlicht es und bildet die Brücke zu einem weiteren Song: "Roll On John", ein Tribut an den von einem Fan ermordeten John Lennon. Der Song klingt ganz so, als sei er in den 80er Jahren entstanden. Dylan hat in einem "Rolling Stone"-Interview erwähnt, dass er ursprünglich ein Album mit religiösen Liedern aufnehmen wollte, aber nicht genug Songmaterial hatte. Im geradezu liebevollen Lennon-Tribut zitiert Dylan auch einige Beatles-Songs.

Hörenswert, obwohl musikalisch ein wenig eintönig, ist die 14-Minuten Ballade "Tempest", in der sich Dylan mit dem Untergang der Titanic beschäftigt. Ähnlich wie in "Desolation Row" lässt er alle möglichen Personen auftreten, darunter auch Leonardo DiCaprio. Die Idee zum Song hatte er, als er einen alten Carter-Family-Song hörte. Doch während das Schiff unterging, fährt Dylan neverending weiter.