Er hat es getan. Der österreichische Comiczeichner Nicolas Mahler hat tatsächlich James Joyces "Ulysses" als Comic umgesetzt! Ganz unerwartet war der Coup nicht. Nach einem berechenbaren Algorithmus war "Ulysses" jetzt an der Reihe.
Nachdem der Zeichner 2011 erstmals eine literarische Vorlage, Thomas Bernhards "Alte Meister", als Comic inszeniert hatte, setzte er in den folgenden Jahren seine literarischen Bearbeitungen in unterschiedlichen Formaten und mit unterschiedlichen stilistischen Mitteln fort: Von Texten von Lewis Carroll und H. C. Artmann bis Frank Wedekind, schließlich Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften" (2013) und Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" (2017), zwei Klassikervorlagen, die sich in ihrer Monumentalität je nach Betrachtung wechselseitig überragen.
Die Kunst der Verkürzung
Der Reiz des scheinbar Unmöglichen hat es dem Autor offenbar angetan. Nun hat der Autor nochmals eine Reizschwelle überschritten: "Ulysses", auch "der berühmteste ungelesene Roman der Welt", gilt durch seine enorme Bandbreite an Motiven und formalen Mitteln als äußerst schwer zugänglich. Ist es nicht Hybris, ein derartig vielschichtiges Romanwerk in einen Comic verpacken zu wollen? Ist ein solches Unterfangen nicht zum Scheitern verurteilt? Eines vorweg: Mahlers Comic-Umsetzungen sind keine Adaptionen, die ihre literarischen Vorlagen eins zu eins in Comicform gießen. Von solch monströsen Selbstüberschätzungen ist der Zeichner weitest entfernt. Der international hochgelobte, vielfach verlegte und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Autor ist bekannt für seine Kunst der Verkürzung, von der er auch in seinen Inszenierungen literarischer Werke ausgiebig Gebrauch macht. Hat Mahler in seiner Umsetzung von Bernhards "Alte Meister" noch vergleichsweise umfangreiche Text-Passagen verwendet, sind die ungeheuren Textmengen aus Musils und Prousts Jahrhundertwerken in den Comic-Inszenierungen auf wenige Seiten geschrumpft.
Mahlers "Ulysses" kommt mit einer Handvoll originalgetreuem Text aus und verströmt auf knapp 300 Seiten dennoch die Stimmung des Tausend-Seiten-Romans. Die Kunst des Weglassens, des Auswählens, des Anpassens und neu Arrangierens ist Mahlers Ei des Kolumbus: "eine verblüffend einfache Lösung für ein unlösbar scheinendes Problem". Wie ein Odysseus navigiert der Zeichner durch das Jahrhundertwerk, ohne sich von der schier unbewältigbaren Textmenge und der erschlagenden Vielfalt ästhetischer Glanzleistungen seiner Vorlage betören zu lassen.
Joyces "Ulysses" ist die detaillierte Schilderung eines Tages, des 16. Juni 1904, im Leben des Anzeigenakquisiteurs Leopold Bloom: eine doppelbödige Odyssee durch Dublin und - in vielädrigen Bewusstseinsströmen - durch die Innenräume des Protagonisten sowie etlicher Figuren um ihn herum. Joyce hat seinen "Ulysses" aus 18 streng komponierten Kapiteln palimpsestisch über Homers "Odyssee" gelegt. Jedes Kapitel folgt einer anderen ästhetischen Regel und ist mal als innerer Monolog, mal als Theaterstück verfasst; in jenem phänomenalen Kapitel in der Geburtsklinik spiegelt sich die Entwicklung des Embryo in der Entwicklung der Sprache vom Keltischen bis zu Joyces zeitgenössischem Englisch.
Mahler hat den Schauplatz, weniger geografisch als vielmehr sprachlich, nach Wien verlegt und "Ulysses" im Medium des Comics neu erfunden. Blooms Tagesablauf scheint darin, gleich einem grafischen Palimpsest, durch - auch wenn statt der berühmten Nierndln ein "Hirn mit Ei" anbrennt -, vor allem aber verbindet den Comic eine unbändige Lust am Experimentieren mit seiner Vorlage. Auch der Zeichner unterlegt jedem seiner Kapitel entlang des Titels - U-L-Y-S-S-E-S -, farblich und grafisch voneinander abgegrenzt, ein eigenes Verfahren, ästhetisch virtuos durchbuchstabiert. Sein Held ist Anzeigenakquisiteur des Wiener "Neuigkeits-
Welt-Blattes". Die grandiose Idee Mahlers war es, eine Reihe österreichischer Zeitungen vom 16. Juni 1904 zu durchforsten und als Grundlage seines grafischen Romans zu verwenden. Das gefundene Material ist ein gefundenes Fressen. Eine Fundgrube, die ihm Sprachschatz und Lokalkolorit eines Wien der Monarchie-Zeit liefert. Das zeigt sich zuallererst in den prachtvollen Namen von Wurmb (statt Bloom), dessen Pseudonym Heini Bleampl (statt Henry Flower), bis Homolka (Dignam). Wenn die Zeitung eine Urform der modernen Fragmentierung ästhetischer Erfahrung darstellt, so erscheinen die gemischten Anzeigenseiten als eingefrorene Spiegelungen des modernen Bewusstseins in Miniaturform: Wie in scheinbar zusammenhangslosen Assoziationsketten springen die Anzeigen von der Quargel-Werbung zur Filzhut-Reklame, von der Heiratsankündigung zur Verlustanzeige, von der "Darmputzerei" zum modernen "Steingut-Trocken-Klosett". In einem einzigartigen Schauspiel überträgt der Autor diese untergründige Form des Gedankenspringens in den Bewusstseinsstrom seines Wurmb, den vornehmlich das Treiben seiner Frau Molly mit deren Liebhaber Berlyak (Boylan) - einem "schmierigen Typ" - beschäftigt. Mit neuen Bedeutungen aufgeladene Wortbrocken aus den Anzeigen schwirren wild über die Seiten und Wurmb, der sich als Betrogener, als Gedemütigter und als Tollpatsch (Bleampl auf Wienerisch) sieht, durch den Kopf. Wie Joyce in seinen Worterfindungen und Lautverwandlungen, seinem kunstvollen Wortgebrabbel, das mitunter an das Vokabular der Comics erinnert, die Grenzen der Sprache auswuchtet, schöpft Mahler Möglichkeiten des Grafischen aus, indem er seinen Anzeigenakquisiteur auf Layout-Fetzen herumirren lässt oder die Überlagerungen von Dialog und innerem Monolog in unterschiedlichen Schriftsätzen überblendet. Eine zweite historische Quelle sind für Mahler die US-amerikanischen Zeitungsstrips, die diese blühende Epoche des frühen Comics (zwischen 1885 und 1930) hervorgebracht hat.
Im Unterschied zur Vorlage, deren letzter monströser Satz mit einem lebensbejahenden "Ja" endet - "und ich hab ja gesagt ja ich will Ja" -, hängt Mahler seinem "Ulysses" noch eine Coda an: Als Letztes steht in einer weißen Sprechblase auf nachtschwarzem Hintergrund: "Nein." Wir befinden uns in Wien.
Doch ob - oder angesichts - solchen Widerspruchs bleibt Mahlers "Ulysses" ein großartiges sinnliches wie intellektuelles Vergnügen. Und Joyce hätte seine helle Freude damit.