"Sweet Salgari" ist keine klassische Biografie, sondern ein kunstvoll komponierter Comicroman. - © Avant Verlag / Paolo Bacilieri
"Sweet Salgari" ist keine klassische Biografie, sondern ein kunstvoll komponierter Comicroman. - © Avant Verlag / Paolo Bacilieri

Wenn das heilige Wasser des Ganges, jenes legendären Stroms, der seit Urzeiten von den Völkern Indiens verehrt wird, die schneebedeckten Berge des Himalaja, / die reichen Provinzen von Singapur / von Delhi, / von Uttar, / von Bihar / und von Bengalen / durchquert hat . . ." Der Anfang der "Geheimnisse des schwarzen Dschungels" liest sich wie eine Genesis im Zeitraffer: Der Fluss Ganges, Symbol des Lebens, der durch tausende von Zuflüssen und Seitenarmen anschwillt, zerfasert sich vor dem Ozean wiederum in ein tausendfach amphibisch verästeltes Deltanetz mit vielen Inselchen und Sümpfen, die sogenannten Sundarbans. Der italienische Zeichner Paolo Bacilieri, hierzulande bekannt durch seinen raffiniert arrangierten Kreuzworträtsel-Comic "Fun" (2019), hat einen Comic über den Schriftsteller Emilio Salgari gezeichnet. "Sweet Salgari" ist ein sentimentales Denkmal für den vergessenen Autor von Abenteuerromanen.

Weltreisen auf dem Papier

1862 in Verona geboren, träumte Salgari als belesenes Kind von einem abenteuerlichen Leben auf fremden Kontinenten. Nachdem sein Versuch als Schiffsjunge anzuheuern, kläglich gescheitert war, verlegte sich der 20-Jährige auf das Weltreisen im Kopf und begann mit dem Schreiben. Die realen Grenzen Italiens wird er zeitlebens nie überschreiten. Seine Bücher dagegen sehr wohl.

Fast 100 Abenteuerromane hat Salgari, der das 50. Lebensjahr nicht erreichen sollte, in einem manischen Schriftstellerdasein verfasst. Viele davon wurden als Comic adaptiert oder verfilmt. Dass der Autor als "italienischer Karl May" etikettiert wurde, half seiner Vermarktung besonders im deutschsprachigen Raum, übersah jedoch die Stärken seiner Werke, die untypisch für seine Zeit die Blickwinkel Einheimischer einnehmen und Symbolfiguren von antikolonialistischer Rebellion erschaffen wie in "Sandokan" oder dem "Schwarzen Korsaren". "Salgari, bei dem die Helden oft Farbige und die Weißen böse sind, muss meine ersten Annäherungen an die Kulturanthropologie ziemlich verwirrt haben." Die Feststellung macht der Protagonist in Umberto Ecos "Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana", der auf dem Dachboden seiner Kindheit auf Salgaris Romane stößt. Aufgewachsen zur Zeit des Faschismus, erlebt Eco den zum Trivialautor abgestempelten Autor retrospektiv als Antidoton zur rassistisch-kolonialistischen Lektüre jener Epoche.

Der italienische Zeichner Paolo Bacilieri kommentiert in "Sweet Salgari" nicht, sondern verlässt sich vielmehr auf das Zwiegespräch zwischen Text und Zeichnung. - © Avant Verlag / Paolo Bacilieri
Der italienische Zeichner Paolo Bacilieri kommentiert in "Sweet Salgari" nicht, sondern verlässt sich vielmehr auf das Zwiegespräch zwischen Text und Zeichnung. - © Avant Verlag / Paolo Bacilieri

"Sweet Salgari" richtet ein anderes Augenmerk auf den Schriftsteller: So illustriert Bacilieri seine ausführlichen Zitate nicht etwa mit exotischen Landschaften und Szenerien, in denen sie spielen, sondern mit Ansichten jener Städte, in denen ihr Autor - zwischen Verona, Venedig, Genua und Turin - sie ersann. Statt des Ganges sieht man den Po und die Mole Antonelliana, das Wahrzeichen Turins, einen Pavillon im orientalischen Stil zur Zeit der Weltausstellung 1898 oder ein Straßenbild gezeichnet von Armut. Bacilieri kommentiert nicht. Er vertraut auf das Zwiegespräch zwischen Text und Zeichnung, die dialogische Kraft, durch die sich Widersprüche in produktive Spannung verwandeln. Eingewoben in ganzseitige Zeichnungen sind Bildkästchen mit puzzleartigen Details - Hände, Füße, Blicke. Der Leser muss sich der Macht der Fantasie hingeben. Die wilde Einbildungskraft des Geschichtenerfinders stellt der Zeichner einem eintönigen Leben gegenüber. Von ein paar beruflichen Reisen abgesehen verbringt der Schriftsteller seine Zeit am Schreibtisch, mit Zigaretten und Spaziergängen. "Sweet Salgari" ist keine klassische Biografie, sondern ein kunstvoll komponierter Comicroman. Vieles muss sich der Leser zusammenfügen. Da liegt zu Beginn eine zerbrochene Feder auf dem Schreibtisch, ein Detail, das sich erst gegen Ende des Comics aufklären wird. Dem Anfang ist das Ende eingeschrieben. Es mäandert dem Ganges gleich durch die Bilderreihen.

Knebelvertrag mit Verlag

Am 25. April 1911 nimmt sich Salgari nach japanischer Art das Leben. Auf seinem Weg zum Schauplatz seiner letzten Inszenierung blitzt sein Leben in Bruchstücken auf. In seinen Manteltaschen finden sich ein Rasiermesser und drei Abschiedsbriefe. Er hat Zahlungsrückstände beim Greißler, seine Frau wurde kürzlich in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, zwei seiner vier Kinder - allesamt nach Helden seiner Romane benannt - hat er diesen Morgen noch zur Straßenbahn begleitet. 1906 hat der Schriftsteller Verlag gewechselt: Der Comic zitiert den Knebelvertrag Bemporads, der Salgari zu vier Manuskripten pro Jahr zwingt. "Ihr, die ihr mir die Haut abgezogen habt, um damit reich zu werden", erhebt Salgari Anklage gegen die Verleger.

Daneben zeichnet Bacilieri die "allumfassende, kosmische Einsamkeit" eines Autors, der seine Schriftstellerei nicht zu schätzen wusste, sein Werk, das Generationen von Jugendlichen in Bann zog, selbst nicht als Kunst zu würdigen vermochte. Während die Lehrer den Schülern gebieten, in der Klasse sitzen zu bleiben, widersetzen sich diese, als sie vom Tod ihres geliebten Romanautors hören: Gemeinsam strömen sie hinaus, um ihm ihre Ehre zu erweisen. Bacilieri tut dies mit einem facettenreichen wie parabelhaften Comicporträt.