Kann man sich der Macht nähern, ohne dabei seine Seele zu verlieren?" Diese Frage stellt sich der französische Zeichner Mathieu Sapin angesichts der Biografie Jean Racines. Der französische Klassiker des 17. Jahrhunderts schrieb ein Dutzend Tragödien über Liebe, Macht und Begehren, die wegen ihrer einzigartigen Verse in Alexandrinern in Frankreich bis in die Gegenwart als unübertroffen gelten. Als er in der Literatur gewissermaßen alles erreicht und zum Beispiel auch seinen Konkurrenten Pierre Corneille - seinerzeit "der Zinédine Zidane der Tragödie" (Sapin) - ausgestochen hatte, hängte er das Theater an den Nagel und wurde zum Chronisten König Ludwigs XIV., in seinen Augen der erhabenste Herrscher aller Zeiten.

Racine, dessen Lebensgeschichte Sapin in atemberaubenden Szenen in die Gegenwart versetzt, ist für den Autor ein lohnenswerter Umweg. Die Frage betrifft ihn nämlich höchst unmittelbar selbst. Eigentlich hatte er sich "geschworen, mit der Politik aufzuhören . . ."

Begleiter von Hollande und Depardieu

- © Reprodukt / Mathieu Sapin
© Reprodukt / Mathieu Sapin

Nach einer Reihe fiktionaler Comics begleitete der Zeichner 2012 die Wahlkampagne des französischen Kandidaten François Hollande und verpackte seine Beobachtungen in Comicform. Etwas später war ihm ein Jahr lang Zutritt zum Élysée gestattet, um eine außergewöhnliche Reportage des Präsidentschaftspalastes und seiner Bewohner zu zeichnen. Und schließlich war der Künstler fünf Jahre mit Gérard Depardieu in Aserbaidschan und Europa unterwegs. Das Ergebnis - "Gérard - Fünf Jahre am Rockzipfel von Depardieu" (Deutsch 2018) - ist ein flirrendes Comic-Porträt des französischen Schauspielers. Mit Scharfsinn reflektiert der Zeichner darin ebenso die eigentümliche Dialektik von Nähe und Distanz, die ein solches Unterfangen für den Chronisten unwillkürlich mit sich bringt.

Eigentlich hat er sich ja geschworen . . . - Doch es kommt anders: "Ich hatte einen Rückfall." Sapins Rückfall heißt "Comédie Française - Reisen ins Vorzimmer der Macht". 2017 spielt sich Emmanuel Macron als neuer Politstar in den Vordergrund. Backstage verfolgt der Zeichner das TV-Duell zwischen Macron und Marine Le Pen mit Stift und Papier. "Einmal sehen, was er taugt, dieser Bengel." Umgarnt von der Neugier, angespornt von Freunden, entschließt sich der Zeichner, ein grafisches Porträt von Macron zu zeichnen. "Ich schreibe die finstere Legende von Macron!"

Das Augenzwinkern beherrscht Sapin virtuos. In den Gedankenblasen sind die gewöhnlich im Verborgenen stattfindenden Synapsenbildungen des Autor-Alter-Egos sichtbar. Dieses ist zwar kleiner dargestellt als die anderen Figuren, doch auf dem schmächtigen Körper sitzt ein beachtlicher Quadratschädel. Das hat, zumal für einen Zeichner, Methode, denn mit seinem Gesichtsausdruck spricht er unmittelbar zu seinem Publikum. Auch darüber hinaus sprühen die Panels vor Bezügen und werden zu vielschichtigen Ressourcen der Wahrnehmung.

Im Vorzimmer der Macht

Doch das Projekt des Zeichners gerät ins Stocken. Zwar verschafft sich der umtriebige Journalist Zugang zu hochkarätigen Treffen - in Versailles, im Élysée - mit Macron, inzwischen Präsident der Republik, folgt ihm auf einer Reise zu Stationen des Ersten Weltkriegs. Aber der Plan, den Präsidenten aus der Nähe zu porträtieren, wird durch innenpolitische Turbulenzen - Rücktritte von Ministern, Abgänge von Beratern - durchkreuzt. Oder ist es am Ende der stets entspannte, joviale Präsident - das Epitheton Jupiter hat er sich selbst zugeeignet -, der wohl Sapins Comic über Depardieu als "genial" lobt, aber sich dennoch nicht von einem Künstler in die Karten blicken lassen möchte?

Unfreiwillig antichambrierend, also im Vorzimmer der Macht wartend, richtet Sapin den Fokus auf sich selbst, auf das ambivalente Verhältnis von Kunst und Macht. Mit einem Feuerwerk an Witz und Ironie inszeniert der Zeichner sein Scheitern als sokratische Rettung. Flankiert von Racines Aufstieg vom Tragödienschreiber zum Königlichen Kammerherrn am Hof des Sonnenkönigs verfolgt der Comic Macrons Inszenierungen von Macht bis hin zum "Machtexzess" als Facetten einer menschlichen Komödie.