"Fünf Jahre, mehr Zeit bleibt uns nicht! All den Verrückten, den Durchgedrehten, den Verlierern und den Gewinnern ...": Der Anfang legt eine Brücke ins Heute. Zwar lässt der deutsche Illustrator und Comiczeichner Reinhard Kleist zu Beginn seiner Graphic Novel "Starman: David Bowies Ziggy Stardust Years" den beliebtesten Alien der Rockgeschichte in seiner Paraderolle auferstehen - und diesen auch gleich den Eröffnungssong seines monolithischen Albums "The Rise And Fall Of Ziggy Stardust And The Spiders From Mars" aus dem Jahr 1972 anstimmen, in dem die Welt in den Abgrund blickt. Die aufgebrachten Menschenmassen inklusive Protest-Schildern, partiell vorhandenem Mund-Nasen-Schutz und Smartphones allerdings aktualisieren das Grundsetting in Richtung der "Fridays For Future"-Demonstrationen und der rezenten Aufmärsche sogenannter "Impfskeptiker".
"Wer wird kommen, um uns zu retten?" Ähnlich wie in "Five Years" eröffnet die Welt auch im Jahr 2021 bisher ungeahnte Abgründe. Leider aber ist heute kein in die Rolle eines innerlich zerrissenen Comic-Superhelden geschlüpfter Rockstar aus dem Orbit zur Stelle, um uns vor dem Unheil zu bewahren. David Bowie ist tot - und die politische Großwetterlage selbst zu einer Art Klimakatastrophe geworden. Bei allen frühen Selbstzweifeln des Sängers als vermutetem One-Hit-Wonder rund um den verloren durch das All schwebenden Major Tom im Song "Space Oddity" aus dem Mondlandungsjahr 1969 und einer nach dem Durchbruch zunehmend vom eigenen Lebenswandel bedrohten Existenz entführt "Starman" doch in eine Welt, die bis heute nichts von ihrer Strahlkraft verloren hat. Der Rock n Roll war noch ein Versprechen, nicht nur die sexuelle Revolution verhieß Freiheit und die Zukunft schien mehr zu sein als ein großes, dräuendes Fragezeichen. Außerdem befeuerte das Wetteifern in den unendlichen Weiten des Weltraums die kreativen Energien in Literatur, Film und Musik.
Jumpsuits und Rückblenden
Nach "Bowie: Ein illustriertes Leben" der spanischen Illustratorin María Hesse sowie dem gleichfalls auf die Ziggy-Stardust-Ära fokussierten Band "Bowie - Sternenstaub, Strahlenkanonen und Tagträume" von Michael Allred und Steve Horton handelt es sich bei "Starman" bereits um den dritten Comic innerhalb nur eines Jahres, der sich mit dem Leben und Werk des im Jahr 2016 verstorbenen Popstars beschäftigt.
Für den popkulturell bereits mit Arbeiten wie "Cash - I See A Darkness", "Elvis - Die illustrierte Biographie" oder zuletzt "Nick Cave - Mercy On Me" aufgefallenen Reinhard Kleist wiederum bedeutet David Bowie gezeichnetes Neuland. Der 51-Jährige läuft dabei vor allem mit großflächigen Panels zur Hochform auf, die Ziggy Stardust als per se schon wie aus einem Comic entsprungenes Bühnenfaszinosum in bunten Jumpsuits porträtieren, den Fokus also auf den Performer und dessen Genese legen: Bis zur androgynen Künstlerpersona in den meisterlichen Outfits des japanischen Designers Kansai Yamamoto war es auch für David Bowie ein weiter Weg.

Mit zwecks erhöhten Kontrasts bevorzugt nachkriegsbeige gefärbten Rückblenden geht es zumindest zwischendurch auch realbiografisch weiter zurück. Die Beziehung zu David Bowies psychisch gebeuteltem älteren Halbbruder Terry steht ebenso im Fokus wie erste Träume von (noch) fernem Ruhm. Für den gilt es zunächst auch skeptische Erziehungsberechtigte (David Bowies gestrenge Mutter Peggy) zu überzeugen und später mit windigen Managern zurechtzukommen.
Gerade im Panoptikum des Szenegeschehens erweist sich Reinhard Kleist als an Anekdoten und Details interessiert. Immerhin erlebt man auch die Erstbegegnung von David Bowie und Marc Bolan im Büro des Promoters Leslie Conn, das die angehenden Rockfachkräfte zunächst einmal neu ausmalen sollen. Man darf auf die bereits in Arbeit befindliche Fortsetzung also gespannt sein. Der Band "Low - David Bowies Berlin Years" soll im Jahr 2023 erscheinen.
Lieben und leiden
Mit "Leonard Cohen - Like A Bird On A Wire" kommt dieser Tage aber auch eine dezidierte "Comic-Biografie" in den Handel, deren Handlungsträger und Plot sich nicht ganz so offensichtlich für eine Graphic Novel anbieten: Der hier also als Panel-Poet umgehende, gleichfalls im Pop-Trauerjahr 2016 verstorbene kanadische Liedermacher Leonard Cohen kommt doch recht eindeutig von García Lorca und Layton und nicht von Marvel und Ehapa.

Trotzdem hat sich sein Landsmann Philippe Girard an die Arbeit gemacht und das Leben des Meisters gezeichnet. Sein Buch beginnt - wie könnte es anders sein - mit dem Tod: Der nach einem Sturz im Sterben liegende Sänger ("Death Of A Ladies Man") erinnert seine Affären und Karrierestationen in zahlreichen Rückblenden. Wobei Girard beim Ableben von Leonard Cohens Vater und dem Tod seines Hundes Tinkie ansetzt und seine Erzählung im Weiteren braver und weniger bildgewaltig anlegt als sein deutscher Kollege.
Statt sich wie dieser auf deutlich mehr Raum weitgehend einer Karrierephase zu widmen, komprimiert Girard ein ganzes Leben auf knapp 120 Seiten. Das führt zu holzschnittartigen Momentaufnahmen und größeren Sprüngen. Wobei auch Girard Wert auf Details legen kann und sich unpopulären Perspektiven nicht verschließt. So taucht etwa die deutsche Trauerfürstin Nico weniger als heute verklärte (Velvet-)Underground-Legende als vielmehr als handfeste Rassistin auf.

Leonard Cohen jedenfalls liebt und leidet sich zwar nicht als Kunstfigur, aber innerlich um nichts weniger zerrissen als Ziggy Stardust unter Zuhilfenahme von Sex, LSD, Antidepressiva und sehr viel Rotwein durch seine Biografie. Die Kindheit in Montreal, der Dichterfürst auf Hydra, das Chelsea Hotel, die bedrohliche Arbeit mit dem Pop-Irren Phil Spector, der Sänger im Ausgedinge, als heilsuchender jüdischer Zen-Buddhist, wiederentdeckter Klassiker und gefeierter Held der letzten Jahre . . .
Girards Band enthält übrigens nur ein Panel, das eine ganze Seite füllt: Ganz am Ende sieht man das Mural in der Heimatstadt Cohens, das an einen Überlebensgroßen erinnert, der fehlt.