Wir können sie alle beobachten: die beschädigenden Zugriffe auf den Rechtsstaat, die gezielten Angriffe auf die demokratischen Institutionen, die auf Aushöhlung und Abbau des Rechtsstaates hinarbeiten. Wir müssen nicht zu Erdogan oder Putin pilgern. Wir brauchen uns nur in der EU umzusehen. Der Beispiele gibt es genug: Einschränkungen der Medienfreiheit, Entmachtung der Justiz, autokratische Machtkonzentration auf eine Person oder Partie.

Im Jahr 2017 hat der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder ein Büchlein "Über Tyrannei" verfasst, "Zwanzig Lektionen für den Widerstand". Es war noch Trump-Land. Auf diesem Hintergrund ist es entstanden, geschrieben für den Ernstfall. Der Ernstfall ist nicht (erst) die Tyrannei, die Abschaffung der Demokratie. Der Ernstfall ist bereits schon die Gefahr einer solchen. Der Fortbestand der liberalen Demokratie ist nicht selbstverständlich, er braucht seine mündigen Verteidiger und Verteidigerinnen.

Interaktion zu den Texten

"Setze ein Zeichen." - Den Lektionen sind praktische Imperative vorangestellt. Die in New York lebende deutsche Künstlerin Nora Krug hat auf ihre Weise ein leuchtendes Zeichen gesetzt, indem sie Snyders Buch illustriert hat. Illustriert? Von Anfang an tritt die Zeichnerin in Interaktion zu den Texten, hält Zwiesprache, findet eigene Verknüpfungen. Seit ihrer künstlerischen Selbstverortung als Deutsche in ihrem Gesamtkunstwerk "Heimat - Ein deutsches Familienalbum", in dem sie Text, Zeichnung und Fotografie miteinander verwebt, hat die Autorin internationale Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Auch in diesem Band verwendet sie nun unterschiedliche Ausdrucksmittel, die an Collage und Montage erinnern. Dabei setzt Krug bereits beim Lettering und Layout an, hebt Passagen und Sätze durch verschiedenfarbige Hintergründe und Schriften hervor. Schon Snyders Lektionen sind in handliche Abschnitte unterteilt.

- © C. H. Beck / "Über Tyrannei. 20 Lektionen über den Widerstand." / Timothy Snyder / Nora Krug
© C. H. Beck / "Über Tyrannei. 20 Lektionen über den Widerstand." / Timothy Snyder / Nora Krug

Mehrfach liefert Österreich verhängnisvolle Beispiele

Auf Zwischentitel wie "Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam" folgt jeweils eine kurze Begründung, warum diese Handlung oder Verweigerung demokratiepolitisch von Bedeutung ist. Dann holt der Historiker weiter aus und verweist auf Situationen in der Vergangenheit, in denen diese Handlungen oder ihr Fehlen entscheidend waren für den Fortbestand der Demokratie oder ihre Transformation in eine autoritäre Herrschaft bis hin zu Faschismus, Nationalsozialismus oder Stalinismus.

Mehrmals liefert Österreich verhängnisvolle Beispiele, wie 1938, als österreichische Nationalsozialisten Juden zwangen, die Straßen auf Knien zu schrubben. "Der vorauseilende Gehorsam der Österreicher lehrte die oberste NS-Führung, was möglich war." Monate später "organisierten die deutschen Nazis nach dem österreichischen Vorbild vom März das landesweite Pogrom, das als ,Reichskristallnacht‘ in die Geschichte einging".

In ihrer formalen Gestaltung bricht die Künstlerin die Texte ein weiteres Mal auf oder verleiht ihnen emphatischen Nachdruck wie in den Kapitelseiten: Diese beginnen mit einem barock anmutenden Emblem, in dem Aufruf, Zeichnung und Kommentar eine Einheit bilden. In den Folgetexten stellen Zeichnungen, Fotos, eingescannte Artefakte und Papierfiguren neue Bezüge her, setzen Gedanken in Bewegung. Krug schneidet und klebt, kombiniert und zerlegt und lässt die Leser ihre künstlerische Aneignung des Textes nachvollziehen. Es ist ein sozialer Akt der Lektüre, der Anknüpfungspunkte bietet und Handlungsspielräume eröffnet.

Snyders Texte sind vereinfacht, bewusst niederschwellig angelegt, statt abstrakter Theorie finden wir hier dutzende Veranschaulichungen. Der Historiker betreibt angewandte Geschichte und lässt dabei zahlreiche Gewährsleute zu Wort kommen, darunter Hannah Arendt, Viktor Klemperer, George Orwell oder Leszek Koakowski. Von Letzterem stammt das Motto: "Getäuscht worden zu sein ist in der Politik keine Ausrede." Das Verhältnis zur Wahrheit (und zur Lüge) ist ein wiederkehrendes Element: "Glaube an die Wahrheit", "Frage nach und überprüfe" oder "Sei freundlich zu unserer Sprache" und "Achte auf gefährliche Wörter". Das angesprochene Du, das sich in den Imperativen verbirgt, ist das lesende Ich. Ich trage eine Verantwortung und ich habe die Mittel dazu, mich nicht täuschen zu lassen. Fall nicht auf die Tricks der Machthaber herein und schau nicht weg, wenn demokratische Werte missachtet werden! Das ist die Botschaft der zwanzig Lektionen.

- © C. H. Beck / "Über Tyrannei. 20 Lektionen über den Widerstand." / Snyder / Krug
© C. H. Beck / "Über Tyrannei. 20 Lektionen über den Widerstand." / Snyder / Krug

Schmetterling aus farbigen Wollfäden

Um das Widerspiel von schönem Schein und Wirklichkeit, "zwischen dem, was du hören willst, und dem, was tatsächlich der Fall ist", zu veranschaulichen, hat Krug einen Schmetterling aus farbigen Wollfäden gestrickt. In der Gegenüberstellung von Vorder- und Rückseite wird deutlich, was die Ansichten unterscheidet: Man muss den Schmetterling umdrehen, um zu sehen, wie er gestrickt ist, wie die Fäden zusammenlaufen, verknüpft und verknotet sind.

Das ist Teil einer Ästhetik der Mündigkeit, die Krug umsetzt, indem sie sich von den Betrachtern über die Schultern schauen lässt, den Herstellungsprozess offenlegt und Mut zur Unvollständigkeit beweist. Total ist das Autoritäre. Der Widerstand ist facettenreich. Irgendwo steht: "Lies Bücher." Das hier ist ein Buch der Stunde.