Weißt du überhaupt, wie schön du bist? Du wirst noch viele Herzen brechen." Schönheit ist bei Charles Burns meist mit Verstörung verknüpft. Meisterhaft inszeniert er Situationen, die Irritationen auslösen, Verlegenheit oder Verstörung. In Bildern, die durch Mark und Bein gehen.
Mit anderen Bildern hüllt der Autor seine Leser in Ratlosigkeit: Ein Serpentinenweg, der in ein Waldstück verläuft, in dem tiefblauen Himmel darüber schwebt ein kugelförmiges rötliches Objekt, das an Gehirnmasse erinnert, nach unten krakenförmige rosafarbene Arme. Das Ding verliert kokonartige Schoten. Auf den folgenden Seiten werden die zu Boden fallenden Kokons herangezoomt, aus einer aufgebrochenen Hülle schält sich ein Körper heraus, zuerst unförmiges Fleisch, dann klar als Brian erkennbar, einer der beiden Protagonisten in Burns neuer Comicserie "Daidalos", die interessanterweise zuerst in Teilen in Europa erscheint, bevor die noch nicht abgeschlossene Gesamtausgabe in den USA herauskommen soll.
Gesellschaft in
unbefristeter Quarantäne
Der US-Zeichner hat mit seinem bisherigen Opus Magnum "Black Hole" (1995 bis 2004) internationales Aufsehen erregt. Unter Jugendlichen ist eine "Seuche" ausgebrochen, die die Betroffenen teils auf schockierende Art physisch so entstellt, dass sie sich wie Leprakranke vor der Gesellschaft zurückziehen und in unbefristete Quarantäne begeben. Neben dem Reigen an zombieartigen Verunstaltungen spielen sexuelle Symbole eine zentrale Rolle.
Die sechsteilige Reihe in akribisch getuschtem Schwarzweiß ist eine Parabel der Entfremdung Heranwachsender und der Irritationen durch ihre körperlichen Veränderungen, die Erfahrung von Sexualität und jugendlichem Existenzialismus. Virtuos spielt Burns darin auf der Klaviatur des Unheimlichen.
Sexuelle Symbole treten auch in "Daidalos" auf. Das Thema Pubertät verfolgt den Zeichner offenbar, auch wenn der 1955 geborene Vater zweier erwachsener Töchter inzwischen selbst aus dem Alter heraus sein dürfte.
Die neue Serie setzt auch ganz andere Akzente. "Daidalos 1" (2020) hat damit begonnen, dass Brian auf einer Party Laurie kennenlernt. Sie soll die Hauptdarstellerin des neuen Films werden, den Brian zusammen mit seinem Freund Jimmy dreht. Auf der Party zeigen die beiden alte Horrorfilme auf Super 8, die sie als 12- bis 13-Jährige selbst gebastelt hatten. Einer davon, "The Creeping Flesh", handelt von einem wurmartigen Alien, der sich eines Erdenbewohners bemächtigt und diesen unverzüglich in einen mordlustigen Berserker verwandelt. Burns verweist damit auf eine Hauptquelle seiner Inspiration für seine Comicarbeiten: B-Movies, insbesondere Horrorfilme, der 1950er Jahre.
Als Erzählprinzip erweist sich der Perspektivwechsel zwischen Brian und Laurie. Im Hintergrund laufen die Gedanken der jeweiligen Person als innerer Monolog ab. Während Laurie, gekennzeichnet durch ihr wallendes rotes Haar, als offene, ausgeglichene Frau dargestellt wird, haftet Brian von Anfang an etwas Verschrobenes an. Selbst leicht irritierbar wirkt er auf andere verstörend. Brians Verstörungen gehen andererseits oft mit einem Abdriften in traumhafte Zustände und Fantasiewelten einher. Im Comic folgen Realität und Traumwelt unvermittelt aufeinander, was zugleich Reiz und Rätselhaftigkeit der Lektüre ausmacht.
Die Rätselhaftigkeit kontrastiert indessen mit der scharfen Zeichnung und einer plastischen Farbgebung, Groß- und Nahaufnahmen von Gesichtern herrschen vor. Um den Schleier des Geheimnisvollen zu lüften, hilft die Spur der griechischen Mythologie. Daidalos ist der Erfinder, Baumeister und Künstler, der im Labyrinth des Minotauros auf Kreta gefangen gehalten wird, aus dem er nur auf dem Flugweg entkommen kann. Während sein Sohn Ikaros bekanntlich aus Leichtsinn abstürzt, gelingt Daidalos die Flucht mit seinen selbst konstruierten Wachsflügeln.
Als talentierter Zeichner trägt Brian offenbar Züge von Daidalos. Mit seinem Skizzenbuch, in das er unablässig, auch Indiskretes malt, bringt er sich allerdings wiederholt in brenzlige Situationen. In seinen Träumen vermag er zu fliegen, wobei sich die klassische Symbolsprache des Traums - Fliegen als sexuelle Erregung - mit der mythologischen Geschichte überlappt.
Daneben stellt sich heraus, dass jenes krakenhafte Gebilde im Zusammenhang mit einem Selbstporträt Brians, angeregt durch eine verzerrte Spiegelung in seinem Toaster, entstanden ist. In seinem neuen Film soll der rote Krakenball eine zentrale Rolle spielen. In seinen Tagträumen zeichnen sich dazu klare Bilder ab, doch "Wie soll ich das bloß filmen?", fragt er sich. "Das lässt sich doch niemals umsetzen!"
Visuelle
Entfremdung
Geschickt lässt Burns damit eine ästhetische Begründung des Comicmediums einfließen. Denn die Bilder in Brians Kopf hat der Zeichner soeben aufs Papier gebannt.
Der Comic erlaubt Darstellungen, die in anderen Medien nicht in dieser Weise möglich sind. Die Idee mit den kokonartigen Schoten entnimmt Brian dem Science-Fiction-Klassiker "Invasion of the Body Snatchers" (1956) von Don Siegel, den er sich am Ende von "Daidalos 1" mit Laurie im Kino angeschaut hat.
Aus den Kokons schlüpfen perfekte Kopien der Menschen, Aliens, die ihre realen Vorbilder ersetzen und am Ende eine Gesellschaft gefühlloser Wesen hinterlassen, ein grandioses Bild der Alienation, wie das englische Wort für Entfremdung heißt.
Ob Brians Film, den er gerade mit Laurie dreht, ebenfalls auf eine vergleichbare Entfremdungsallegorie hinausläuft, bleibt abzuwarten. Denn zugleich ließe sich, dem griechischen Mythos folgend, Brians Wahrnehmung der Realität als ein Labyrinth deuten, in dem er sich selbst gefangen sieht und dem er in seinen Gedankenflügen zu entkommen versucht.
Oder bieten sich andere Möglichkeiten des Entkommens? Lauries rot-gewelltes Haar etwa zieht sich wie ein Ariadnefaden durch das Panellabyrinth. Doch zuvor endet "Daidalos 2" noch in Verstörung.