
Das Leben ist voller Überraschungen – zum Teil sehr erfreulichen, zum anderen aber auch bedrückenden und herausfordernden. Wie geht man mit den Irrnissen und Wirrnissen des Lebens um? Wo findet man Hilfe und Unterstützung? Das boomende Segment der Ratgeber und Selbsthilfebücher zeigt seit Jahren, dass der Mensch in Zeiten der Krise und Not nach Gleichgesinnten oder besser nach Menschen sucht, die die gleiche Thematik bereits überwunden haben. Einen relativ neuen, interessanten Zugang bieten Sachcomics – das gezeichnete Ich und die Erlebnisse in bunten Bildern. Was auf den ersten Blick witzig oder unterhaltsam erscheint, ist in Wahrheit eine tiefgründige Reise in die Tiefen von Personen und ihren Erlebnissen.
"43 und Single – aber nicht mehr lange." Mit diesen Worten beginnt eine Geschichte, deren Umsetzung als Comic ein echter Überraschungserfolg wurde.
Bei Recherchen zu einer Reportage über die Welt der It-Girls ist die New Yorker Illustratorin Marisa Acocella auf ihren Mr. Right gestoßen: Silvano Marchetto, Inhaber eines der angesagtesten italienischen Restaurants der Stadt. Als Silvano ihr einen Heiratsantrag macht, scheint das Glück perfekt. Doch genau drei Wochen vor ihrer Hochzeit bekommt Marisa die Diagnose Brustkrebs. Was nun? Marisa entscheidet sich, ihre Ängste, Hoffnungen und den Verlauf der Behandlung, aber auch ihre ungebrochene Freude über ein teures Paar High Heels schonungslos ehrlich aufzuzeichnen und aufzuschreiben.
"Cancer Woman" ist Marisa Acocella-Marchettos Sammlung ihrer Erlebnisse, von berührenden Momenten, voller Witz und manchmal auch Verzweiflung. Eine wahre Geschichte, die nichts beschönigt und trotzdem glücklich macht. Das Mutige und Neuartige ist dabei jedoch auch, dass es ein Comic ist. Eine Stil- und Erzählform, die wenn schon, dann eher historische Momente wiedergibt, bis dahin aber wenig wirklich Biografisches, mit Selbsthilfe und Ratgeber verbunden zu bieten hat. "The New York Times Book Review" meinte dazu: "Ein Buch wie ein Feuerwerk, das ganz nebenbei alles beinhaltet, was man über Brustkrebs wissen muss." Die Autorin berichtet von ihren Untersuchungen, ihren Ängsten, illustriert mit einer Rechnung, dem ersten Essen nach der Diagnose, wie sie sich nun nach der Geborgenheit der Kindheit sehnt, fürchtet, dass ihre Beziehung enden könnte und sie lädt die Leser ein, sie von Anfang bis Ende zu begleiten. Die Stilform des Comic erweist sich dabei als perfekt für die Kommunikation mit den Rezipienten. Ängste vor dem Tod, dem drohenden Haarverlust oder der möglichen Gewichtszunahme werden durch die Darstellung in bunten Zeichnungen nicht weniger eindringlich – im Gegenteil. Die Gesichtszüge verraten mehr, als man einem reinen Text entnehmen könnte. Und da es sich um gezeichnete und keine echten Fotos handelt, sind Stilmittel wie Überzeichnung möglich, die das Thema nicht minder tiefgründig erlebbar machen, dabei aber auch Platz für Witz und Humor lassen.

Die Probleme des Alltags und die Sorgen der Patientin werden jedoch auch in dieser humorvollen Auseinandersetzung mit der Diagnose Brustkrebs nicht kleiner und weniger. Die anstrengende Reise durch das Labyrinth von Therapieempfehlungen von der Schulmedizin über alternative Heilmethoden bis zur Scharlatanerie und der Suche einer Christin nach Antworten in der Kabbala, alles wird erzählt. Der Leser ist von Anfang an dabei, wenn die "klassische schulmedizinische Therapie" startet und erlebt Operation, Chemotherapie, Strahlentherapie und Hormontherapie mit der "Heldin" des Comics mit. Am Ende steht die Erkenntnis, dass es dennoch nichts Besseres als das Leben gibt und man es genießen muss.
Marisa Acocella Marchetto hat den Kampf gegen den Krebs gewonnen. 2006 wurde sie für "Cancer Woman" mit den Humanitarian Award der Breast Cancer Research Foundation ausgezeichnet. Ein Teil des Erlöses aus den Verkäufen von "Cancer Woman" fließt in eine von der Autorin ins Leben gerufene Stiftung, den "Cancer Vixen Fund", mit dem bis heute über eine Million Dollar für die Forschung und Behandlung von nicht versicherten Frauen eingenommen wurden. Marisa Marchetto lebt in New York City – und ja sie hat geheiratet.
Ein Outing als Comic
Nicht nur Krankheit, sondern auch sehr persönliche Lebensentscheidungen können zum Inhalt von Comics werden und nicht nur ein neues Genre eröffnen, sondern zu echten Publikumserfolgen werden. Dies geschah bei Alison Bech-del und ihrem Comic "Fun Home". Bechdel selbst beschreibt "Fun Home" als Tragikcomic, das Einblicke in ihr Leben und ihrer Familie gibt.
Alison Bechdel wuchs als Tochter eines katholischen Lehrerehepaars, das nebenbei auch noch ein Bestattungsunternehmen betrieb, in Lock Haven, einer Kleinstadt im Westen Pennsylvanias auf. Nachdem sie an mehreren Kunstschulen nicht aufgenommen wurde, entschloss sich Bechdel als Freiberuflerin Comics zu zeichnen und ging nach New York City. Ihre erste bekannte Serie trug den Titel "Dykes to Watch Out For" – auf Deutsch "Lesben, vor denen man sich in Acht nehmen sollte" und erschien ab 1983 regelmäßig in der feministischen Zeitung "Womannews". 2006 erschien "Fun Home" und wurde unerwartet zu einem riesigen Erfolg. Bechdel beschreibt darin ihre Kindheit und Jugend und ihr besonderes Verhältnis zu ihrem Vater sowie dessen letzte Lebensjahre vor seinem Tod. Das Spannende an diesem Buch ist nicht nur die aufkeimende Homosexualität der Autorin, die sie sehr offen und spannend erzählt, sondern auch wie sich ihr Vater entwickelt und auf sie reagiert. Und wie sich sein Leben durch ihr "Outing" ebenfalls dramatisch wandelt. Es sei hier absichtlich nicht zu viel verraten, aber das Buch nimmt eine absolut überraschende Wendung, die man gelesen und gesehen haben sollte. Der "Tragikcomic" stand mehrere Wochen auf der Bestsellerliste der "New York Times" und wurde vom "Time Magazine" zum "Besten Buch des Jahres 2007" gewählt. Zudem erhielt Bechdel für das Buch den Stonewall Book Award, den Lambda Literary Award und den Eisner Award.

"Es ist gerade eine sehr spannende Zeit für Cartoonisten. Seit ich diesen Beruf ausübe, hat sich das Bild drastisch gewandelt. Es war früher so, dass sich niemand viel um diese Ausdrucksform gekümmert hat. Doch jetzt, jetzt sagen die Leute, dass die Graphic Novel Romane ersetzen wird, das macht das Ganze dann doch sehr viel seriöser und anstrengender", so Alison Bechdel.
Im Mai 2012 erschien das ebenfalls autobiografische Werk "Are You My Mother?". Wie der Name schon erahnen lässt, ging es diesmal um die Beziehung zu ihrer Mutter, die ein Jahr später verstarb. In einem Interview meinte Alison Bechdel: "Ich wollte entweder Cartoonistin oder Psychiaterin werden. Ich bin keine Psychiaterin geworden, habe aber ein Comicbook geschrieben, das sich mit Psychoanalyse beschäftigt, so habe ich doch irgendwie das Gefühl all meine Kindheitsträume tatsächlich realisiert zu haben".
Print-Artikel erschienen am 27. September 2013 in: "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal".