"Wissen Sie, ich tue, was ich will!" Europa 1934: Eine ehrgeizige, 19-jährige Deutsche bricht nach England auf, um in London ihre Ausbildung als Fremdsprachensekretärin fortzusetzen. Am liebsten hätte sie ja auf einem Schiff angeheuert und als "Kapitän" die Welt bereist. Neugierig, unternehmungslustig, mutig, scheint sie zu wissen, was sie will. An jenem Satz allerdings, den sie als Markenzeichen vor sich herträgt, wird man sie messen.
Die Münchner Zeichnerin Barbara Yelin fand im Nachlass ihrer Großmutter einen Karton mit Tagebüchern und Briefen. Ausgehend von diesem einzigartigen Fund hat die Zeichnerin die Geschichte einer Frau gezeichnet, die in den 1930er Jahren ihr Land verlässt, doch nach diesem individuellen Aufbruch wieder nach Deutschland zurückkehrt und einen ganz anderen Weg einschlägt, als sie es vorhatte.
Irminas Geschichte entfaltet sich geografisch: London - Berlin - Barbados lauten die drei Abschnitte, die gleichsam wie Inseln nebeneinander stehen, weil es zwischen ihnen große Lücken und Brüche gibt. Im Gespräch über ihren Comic verwendet die Autorin Yelin gern den Vergleich mit einem "Puzzle". Das passt doppelt: Zum einen für ein Frauenleben in Bruchstücken, das hier (re)konstruiert wird, dessen Puzzleteile wohl nie ganz vollständig sein werden, dessen Bild auf jeden Fall von Fugen und Bruchstellen durchkreuzt bleiben wird. Zum andern ist das Puzzle offenbar ein Sinnbild für das Medium Comic, das die Nahtstellen, die Brüche, die Zwischenräume geradezu zelebriert. In einem durchkonzipierten Wechsel von offenen und umrahmten Panels drückt sich auch die Offenheit und später zunehmende Verengung des Blicks ihrer Hauptfigur aus.
Stolz und Mut
In England ist Irmina eine zielorientierte, eigenwillige Frau, die aus sich etwas machen möchte. Mit Stolz und pikierter Sprödigkeit begegnet sie allerdings Fragen zu den bedenklichen Ereignissen in ihrem Heimatland nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Auf einer Party freundet sie sich mit einem Schwarzen an. Er, Howard mit Namen, gehört zu den ersten Stipendiaten, die aus einem ehemaligen Kolonialland nach Oxford zum Studieren gekommen sind. Als er von seinen Studienkollegen untergriffig und rassistisch angepöbelt wird, wehrt sich Irmina und steht ihm unerschrocken zur Seite. Ihre Zivilcourage unter Beweis zu stellen hat sie noch öfter die Gelegenheit. Empört ist sie vom Verhalten der anderen: "Sehen zu und amüsieren sich! Wieso sagt denn keiner was?"
Hundert Seiten weiter wird sich dieser Satz dem Leser schlagartig ein zweites Mal ins Gedächtnis rufen. Hundert Seiten später, das ist 1938: Irmina ist in Berlin verheiratet mit einem deutschen SS-Mann. Inzwischen findet sie sich auf der Seite derer, über die sie sich einst empört hatte. Als die Juden während der Novemberpogrome aus ihren Geschäften geprügelt, ausgeraubt, gedemütigt und abtransportiert werden, sieht sie zu und sagt nichts.
Jahre später wird sie die bohrende Fragerei ihres kleinen Sohnes, was denn eigentlich Juden seien, mit einer Art Schlussstrich abwürgen: "Die Juden sind unser Unglück. / Verstanden?! Und jetzt gib Ruh!"
Genau diese Widersprüchlichkeit bleibt in Yelins Comic stets sichtbar und unaufgelöst. Man kann "Irmina" als Geschichte eines Lebensentwurfs lesen, dessen Umsetzung durch Selbsttäuschung und Selbstverrat scheitert. Ein Selbstverrat, der allerdings auch einen schwerwiegenden Verrat anderer zur Folge hat. Das "Nazifräulein", als das sie in England zweifellos zu Unrecht beschimpft und etikettiert wird, verwandelt sich, zurück in Deutschland, Schritt für Schritt in eine gefällige Mitläuferin, die sich in ihrer Verbitterung zu Durchhalteparolen und Zurechtweisungen hinreißen lässt, um die von anderen geäußerten Zweifel an der propagandistisch verzerrten Realität kaltzustellen.
Dabei hatte sie den Plan, nur kurz nach Deutschland zurückzukehren. England war für sie ein Ort der Freiheit geworden, ein Ort neuer Möglichkeiten, schließlich ein Ort für eine größere Liebe: Howard. Was hatte sie daran gehindert, ihrem Plan treu zu bleiben, was hatte sie dazu getrieben, ihre eigenen Ziele aufzugeben, zu verraten? Zweifellos waren da mehrere Faktoren im Spiel. Yelins Comicroman, der es nicht auf sensationelle Antworten abgesehen hat, versucht, das Irritierende, das Unerklärliche und Unverständliche zugleich neben den Möglichkeiten sichtbar zu machen, die Irmina ungenutzt lässt.
Ihre Ausbildung als Fremdsprachensekretärin hatte Irmina eine durchaus beachtliche Selbstständigkeit als Frau in Aussicht gestellt. Doch sie schränkt ihren Ehrgeiz zunehmend auf die Verbesserung ihres Gehalts ein und nimmt trotz Vorbehalten ihre verwandtschaftlichen "Verbindungen nach oben" in Anspruch. Der Arbeit im Kriegsministerium folgt der Herd; die Schreibmaschine, die ihr als modernes Instrument jene geschätzte Unabhängigkeit ermöglicht hatte, wird aus dem sozialen Verkehr gezogen, dient nur noch zum privaten Tagebuchschreiben, bis sie gänzlich verstummt. Das ursprüngliche "Ich tue, was ich will!" wird nach und nach konterkariert durch eine gegenläufige Realität, deren Leitspruch lauten könnte: "Ich lass mit mir tun, was sie wollen. Ich tue, was sie wollen."