San Francisco, Ecke Haight Street/Ashbury Street, Frühjahr 1968: Ein junger Mann mit Hippiebrille bietet seine Babys aus einem Kinderwagen feil: "ZAP Comix"-Hefte. Naja, noch sind es Comic-Hefte, neben ihm steht seine hochschwangere Frau, es eilt vielleicht. Gut 20 Jahre später hat Papa Crumb diese Szene gezeichnet: "Und so wurde eine Legende geboren . . ."

Inzwischen genießt er zumindest unter Szenekennern den Ruf, der Vater des modernen "Underground Comix" zu sein. Dass dieses Verkaufssystem nur einen Tag gedauert hat, scheint vernachlässigbar. Es exemplifiziert allerdings auf bezeichnende Weise, wie sich Robert Crumb den Mechanismus der Mythenbildung zunutze zu machen verstand und Autobiografie und Selbsterfindung auf kunstvolle Weise ineinander verwob. Als Crumb 2013 erstmals auf einem deutschen Comictreffen in München präsent ist - übrigens zusammen mit seiner zweiten Frau Aline Kominsky-Crumb, ebenfalls Zeichnerin und Mutter seiner Tochter Sophie -, ist er längst eine herausragende Ikone des Comics - und Opa, wie er mit Stolz verkündet.
Übersetzer Rowohlt
In den letzten Jahren hat der Berliner Verlag Reprodukt sich daran gemacht, die Comicwerke des Zeichners auf Deutsch - zumeist in der großartigen Übersetzung des vor wenigen Tagen verstorbenen Harry Rowohlt - herauszubringen. Eine höchst fällige Übung, nachdem mit "Robert Crumbs Genesis", seiner letzten großen Comic-Adaption, und seiner außergewöhnlichen "Kafka"-Einführung (mit dem Autor David Zane Mairowitz) bisher nur ein Bruchteil von Crumbs Comic-Kosmos auf Deutsch zugänglich war.
In der hervorragend aufgemachten Edition sind bisher drei Bände erschienen, ein vierter Band, der wohl berühmteste, "Fritz the Cat", erscheint demnächst. Die bisherigen Bände umkreisen jeweils lose ein Thema, und stellen, statt chronologisch vorzugehen, Verbindungslinien zwischen mehr als drei Jahrzehnten her. "Nausea" versammelt vorwiegend Adaptionen, die auch als auserlesene Kuriositäten im besten Sinn betrachtet werden könnten. Zu den Herzstücken gehören die titelgebende Adaption von Jean-Paul Sartres "Der Ekel" sowie "Psychopathia Sexualis" des einst in Österreich lehrenden Professors Richard von Krafft-Ebing, doch auch eine zutiefst Crumbsche Fantasia Existentialis über Tod und Eros unter dem Titel "Böses Karma".
In "Mein Ärger mit Frauen" wird das Thema Sex und sexuelle (Männer-)Fantasien, wie der Titel verrät, in einer autobiografischen Tonart durchgespielt. Den kontrapunktischen Auftakt dazu gibt eine Zeichnung am Anfang von "Nausea", in der ein kleiner Crumb mit Papierhut und der Aufschrift "Dummkopf" offenbar eine Strafe ausgefasst hat, nämlich den Satz: "Dem Verlangen ein Ende machen" hinzuschreiben, bis kein Raum mehr für anderes ist.
Der dritte Band der Reihe, "Mister Nostalgia", widmet sich dagegen dem anderen großen Thema Crumbs: dem Country-Blues. "Musik zählt neben Sex zu meinen größten Freuden", gesteht der Zeichner in seinem Nachwort. Und tatsächlich verbindet Crumb, der selbst in einer Band namens "Les Primitifs du futur" Banjo und Mandoline spielt und über eine außergewöhnliche Sammlung alter 78er Schellackplatten verfügt, eine lebenslange Leidenschaft mit dem frühen schwarzen Blues und Jazz der 1920er Jahre.
Crumbs Kultstatus als begnadeter Zeichner ist freilich untrennbar verbunden mit seiner gnadenlosen Umsetzung sexueller Fantasien in unzensiertes anstößiges Bildmaterial, die kompromisslose Darstellung schweinischer Obszönitäten - oder anders ausgedrückt: unterschiedlicher Erscheinungsformen des Begehrens, was ihm insbesondere in den frühen Jahren den Vorwurf eines sexistisch-misogynen Frauenbildes eingebracht hat. Dass Crumb sich selbst als Figur in seinen gewissermaßen kompromittierenden Comics auftreten lässt, ist jedoch auch ein wirkungsvolles und explosives Mittel zur Lenkung der Aufmerksamkeit. Und wenn er sich selbst als "Lieblings-Neuro-Comic-Zeichner" seines Lesepublikums, seine Comics als "Lebensbeichten" und sein Erzählen in Bildern als "Comic-Therapie" bezeichnet, bedient er sich einer bewährten Strategie, die Autobiografen in anderen Medien ebenso nutzen.
Die schonungslose Bloßstellung erotischer, sexueller Neurosen seines Alter Ego, die Stilisierung seiner selbst als "perverser Unhold", ist bei Crumb nämlich keineswegs simple ungebrochene Bekenntnisliteratur, auch wenn autobiografisches Erzählen nur schwer von diesem Missverständnis zu bereinigen ist. Crumb selbst - das kann man in "Mein Ärger mit den Frauen" beispielhaft nachverfolgen - beherrscht das Spiel der Selbstinszenierung vorzüglich und führt das vor, wenn er, ein Virtuose der Koketterie, den Lesern abwechselnd mit prahlender Aufschneiderei und demütigem Understatement ("erst winseln, dann protzen") gegenübertritt.