Es ist vor allem die persönliche, zugleich fundierte Art der Annäherung, die Igorts Comics auszeichnen. In kleinen Abschnitten beschreibt der Autor, was als Ganzes unfassbar ist. Einfache Zeichnungen in fahlen Farben wechseln mit dichten Überblendungen. Knäuel feinster Bleistiftstriche stehen für die unverdauliche Verflechtung des Grauens. Schließlich wird die Reportage zum Requiem für die Opfer.
In eigenen Sprachen
Eine mimetische Form der Annäherung nutzt auch Paula Bullings Reportage "Im Land der Frühaufsteher" (avant-Verlag 2012), in der es, stellvertretend für viele Regionen der EU, um die Situa-
tion von Flüchtlingen in Sachsen-Anhalt geht. Radikal stellt sich die junge deutsche Zeichnerin der Frage der Repräsentation, lässt die Menschen in ihren eigenen Sprachen sprechen, setzt die Übersetzung in den Fußnotenteil und teilt die Autorschaft des Textes mit einem der Protagonisten. In skizzenhaften Schwarzweiß-Zeichnungen wird eine große Nähe zu den Flüchtlingen spürbar, der Freiraum in den großflächigen Panels scheint sich den beengenden Verhältnissen ihrer Situation zu widersetzen.
Gerät die Zeichnung bei Igort und Bulling zum poetischen Ausdruck und melancholischen Bild, so sind Witz und Humor die Stärke von Riad Sattoufs "Der Araber von morgen - Eine Kindheit im Nahen Osten (1978-1984)". Wie in Marjane Satrapis "Persepolis" (2000-2002) sind darin Autobiografie und politische Geschichte miteinander verflochten. Und eine spezifische Fähigkeit des Comics kommt dabei besonders zur Geltung. Denn anders als Wörter, bewegen Bilder sich zwischen Kulturen und übersetzen Gesten einer anderen Kultur unmittelbar, ohne die Seite zu wechseln. Hinzu kommt der doppelte Blick des Zeichners, der die Geschichte aus der Perspektive des kleinen blonden Riad erzählt. Geboren in Frankreich, kommt er mit seinem syrischen Vater und seiner französischen Mutter zuerst in Gaddafis Libyen, danach in Hafiz al-Assads Syrien, bevor er nach Frankreich zurückkehren wird. Die Wahrnehmungen Riads spiegeln auf subtile Weise politische und soziale Strukturen von Ländern im Würgegriff ihrer Diktatoren.
Die Herausforderung, eine eigene bittere Vergangenheit in Comicform schonungslos darzustellen, ist der österreichischen Zeichnerin Ulli Lust meisterhaft gelungen. Durch ihren dokumentarischen Erzählstil hat sie mit "Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens" (avant 2009) einen Maßstab gesetzt und gezeigt, wie man bedrohlichen Gefühlen wie Angst und Ohnmacht mit zeichnerischen Mitteln überzeugenden Ausdruck verleihen kann. Ein anderes sensibles Thema behandelt Fabien Toulmés "Dich hatte ich mir anders vorgestellt . . ." (avant). In dem soeben herausgekommenen Comic stellen Julias Eltern nach der Geburt fest, dass ihre Tochter Trisomie 21 bzw. Down Syndrom hat.
Schonungslos offen beschreibt darin Fabien seine Gefühle zwischen Schockzustand, Enttäuschung und Trauer angesichts dieser überraschenden Nachricht, die er nicht vor sich selbst verbergen möchte. Stilistisch sind die kapitelweise abwechselnd monochrom kolorierten Zeichnungen konventionell, der aufrichtige Ton macht diesen Comic jedoch zu einem berührenden Ereignis.
Skurrile Komik
Doch Autobiografisches geht auch abgedrehter, wie die Sammlung "Hexe Total" (avant 2015) veranschaulicht. Auf den ersten Blick ahnt man es nicht, dass die Comics des australischen Zeichners Simon Hanselmann einen stark autobiografischen Hintergrund haben. Der Plot wirkt belanglos, fremdartig jenseitig bis abstoßend: Die Hexe Megg, die Katze Mogg und eine menschenähnliche Eule, meist das Opfer der beiden ersten, leben in einer Kiffer-WG und stecken darin symbolisch fest. Kiffen und Dissen (= schlechtmachen) sind ihre einzigen Mittel gegen Langeweile und Depression. Sexspiele kommen noch dazu. Durch die schräge Figurenkonstellation schwingt das Theatralisch-Komische mit, doch die skurrile Komik ist stets hart an der Grenze, denn die Ursachen der Lethargie sind Joblosigkeit, Perspektivlosigkeit, Selbstverlorenheit.
Alsbald erkennt man hinter den Masken und ihren derben Sprüchen greifbare Typen. Dass die ständig kiffende Hexe Megg das Alter Ego des Crossdressers Hanselmann ist, dessen Mutter bereits drogenabhängig war, ist aufschlussreich. Für den Autor wurden die Comics zum Rettungsanker. "Ich wüsste nicht, was ich tun sollte, wenn ich keine Comics zeichnen könnte." Verstörend und überwältigend sind insbesondere die wuchernd-wabernden Bilderfolgen über Depression und abgründige Abwärtsbewegungen.
"Verdammte Scheiße! Man hat uns adaptiert!!!" Das Elend der Adaptionen ist allerdings nicht comicspezifisch. Miserable Verfilmungen sind genauso jämmerlich wie missverstandene Comicadaptionen. 1994 haben Paul Karasik und David Mazzucchelli auf Anregung von Art Spiegelman eine "visuelle Übersetzung" von Paul Austers Roman "Stadt aus Glas" angefertigt: Gelungen ist ihnen eine Übersetzung "in die Ursprache des Comics" (Spiegelman), indem sie von der ersten bis zu letzten Seite mit medienspezifischen Mitteln ein einzigartiges Werk geschaffen haben, das eigenständig neben dem Original bestehen kann, atemberaubend vom ersten bis zum letzten Panel.
Gelungene visuelle Umsetzungen hat es auch in letzter Zeit gegeben, darunter etwa Lusts "Flughunde" nach Marcel Beyer. Eine ganze Palette von Umsetzungs- und Inszenierungsmöglichkeiten hat allein der österreichische Zeichner Nicolas Mahler vorgelegt: Neben "Alte Meister" und "Der Weltverbesserer" nach Thomas Bernhard ist vor allem sein Comic "Der Mann ohne Eigenschaften nach Robert Musil" zu nennen, keine klassische Adap-
tion, sondern eine gewagte Zusammenfassung und Hochzeit von Hehrem und Trivialem. Oder "Alice in Sussex frei nach Lewis Carroll und H. C. Artmann", wo Mahler Carrolls und Artmanns Spiel des Zitierens, Anspielens, Vermischens virtuos auf die Spitze treibt.