Kanonbildung

Um sich ein Bild der vielfältigen Herangehensweisen von Comics an literarische Vorlagen zu machen, eignet sich "The Graphic Canon", (Galiani 2015), dessen zweiter Band dieser Tage in die Buchhandlungen gelangt und 44 Beispiele von Adaptionen der literarischen Moderne von Laurence Sterne bis Oscar Wilde vorstellt. Dessen Ziel ist es ausdrücklich nicht mehr, einem lesescheuen Publikum auf kürzestem Weg komplizierte Literatur näherzubringen, sondern das "brillante Können" des Comics sichtbar zu machen. Das oben leicht abgewandelte Zitat ("Man hat uns digitalisiert!!!") stammt aus dem fast 400 Seiten starken Band.

Überzeugend an der Anthologie des US-amerikanischen Herausgebers Russ Kick ist das offene Konzept, das für die Ausgaben in anderen Sprachen andere Schwerpunkte zulässt. Daher finden sich hier auch Umsetzungen von Werken von E.T.A. Hoffmann, Goethe und Büchner ebenso wie Beiträge verschiedener Zeichner aus dem deutschsprachigen Umfeld.

Ein bemerkenswertes Beispiel des Dialogs mit der Literatur ist Will Eisners kürzlich auf Deutsch erschienene grafische Interven- tion "Ich bin Fagin - Die unerzählte Geschichte aus Oliver Twist" (Egmont 2015): Das Bild des Juden Fagin aus dem Roman von Charles Dickens hat gegen die Intention des Autors in den Köpfen mehrerer Lesergenerationen Unheil angerichtet. Eisner, herausragender Wegbereiter des grafischen Romans, konfrontiert den Autor Dickens mit dessen Figur in der Todeszelle: "Ich (Fagin) ließ euch kommen, um einem Mann gegenüberzutreten, den ihr falsch dargestellt habt!" Und so wird Eisners Umsetzung von Dickens’ "Oliver Twist" zu einem beachtenswerten Korrektiv, das mit seinem letzten Comic, "Das Komplott: Die wahre Geschichte der Protokolle der Weisen von Zion", eine Einheit bildet.

Schließlich darf ein traditionsreiches Genre des Mediums nicht unerwähnt bleiben: der Krimicomic. Der neu aufgelegte Kurzkrimi "Fliegenpapier" (avant 2015) des deutschen Plakatkünstlers Hans Hillmanns nach Dashiell Hammett ist ein herausragendes Beispiel von verdichteter Noir-Stimmung und Hard-boiled-Pose. Gezeichnet in den 1970er Jahren, ist er einmalig in seiner aufwändigen Ästhetik des aquarellierten Helldunkels, in der jedes Panel zum Plakat erstarrt, bis es vom Rhythmus der Geschichte fortgetragen wird.

Einzigartiges Kennzeichen sind die ausschließlich ganzseitigen Panels im Hochkantformat, die sich teils über zwei Seiten ziehen mit spektakulären Blickwinkeln, verwinkelten Architekturen, Straßen, Fenstern, Fluchten und immer wieder Spiegeln und Spiegelungen, die die ohnedies bereits weiten Räume um eine zusätzliche Dimension erweitern. Wie Hillmann wollte, wird Hammetts Text weitgehend von den Bildern "verzehrt", der Blick von den Bildern aufgesogen. Ein Arsenrezept aus "Der Graf von Monte Christo" wird Aufschluss über einen rätselhaften Mord verschaffen. Oder war es gar kein Mord?

Schwarzer Humor

Die Frage stellt sich in "Ich, der Mörder" (avant 2015) von Antonio Altarriba und Keko auf eine andere Art. "Töten ist kein Verbrechen", lautet der erste Satz dieses Comic Noir, dessen sparsam mit roten Spritzern kolorierte Schwarzweißbilder wie poröse Holzschnitte wirken. "Töten ist eine Kunst." Nach und nach werden die Leser mit dem theoretischen Manifest des reinen Mordes vertraut gemacht, das in Form eines inneren Monologs der Hauptfigur entsteht.

Hauptberuflich befasst sich Enrique Rodríguez Ramírez, Professor an der Universität des Baskenlandes, mit dem Thema Schrecken und Grausamkeit in der Kunst, das seit der christlichen Kunst der Totentanz- und Kreuzigungsdarstellungen, über Goya bis in die moderne Kunst und Body-Art eine lange Tradition hat. Eingebettet in einen Alltag von Intrigen am Institut, einer auseinanderbrechenden Ehe, einer herausfordernden Studentin sowie vereinzelten Nachwirkungen einer gewaltsamen baskischen Vergangenheit, geht der Kunstprofessor seinen künstlerisch arrangierten Morden aus interesselosem Vergnügen nach. Dadurch wolle er ein Statement setzen gegen das Töten als Mittel zum Zweck, das "Töten sinnvoll erscheinen lassen" soll. Unbehagen bereitet dieser schwarze Comic durch die subjektive Perspektive, die den Betrachter mitschuldig werden lässt an dieser Dekonstruktion des Tötens und - allzu buchstäblich - der Opfer, die solange "irreversibel" ist, bis der Buchdeckel zuklappt.