Die kolonialen Bildwelten wuchern in den Hinterköpfen der Europäer. Man wundere sich nicht über weit verbreitete stereotype Vorstellungen von Flüchtlingen etwa aus dem afrikanischen Raum in aktuellen Diskursen. Dagegen bieten drei erfrischend-anregende Comics, die sich mit unterschiedlichen Aspekten des Kolonialismus und postkolonialen Erscheinungen befassen, auch ästhetisch bemerkenswerte Zugänge zum Thema.

Das Spannende an "Raus Rein" ist zum einen das Gesamtprojekt. Das Buch ist in Zusammenarbeit mit Studierenden unterschiedlicher Studienrichtungen (Agrarwissenschaften, Geschichte, Kunst) an der Universität Kassel entstanden und ist das Ergebnis einer zweijährigen Beschäftigung mit der ehemaligen Deutschen Kolonialschule in Witzenhausen, heute Teil der Uni Kassel. Ziel dieser 1900 gegründeten Schule war es, junge deutsche Landwirte für ein Leben in den verhüllend als "Schutzgebiete" bezeichneten Kolonien auszubilden.

Die Herausforderung, sich nicht nur mit aufgearbeitetem Material zu befassen, sondern Archivalien unterschiedlicher Art - Fotoalben, Briefe, Tagebücher, Akten und Artefakte - selbst aufzuarbeiten, habe die Studierenden zwar an die Grenzen des Leistbaren herangeführt, sie aber auch vor entscheidende Fragen ihres Projekts gestoßen: "Wer sind die? Diese Schüler der Kolonialschule, die Kolonialisten, die Angehörigen der kolonisierten Volksgruppen?" "Wo positioniere ich mich?" "Wie zeichne ich eine Schwarze, ohne in Vorurteilen verhaftet zu bleiben?" "Wem nützt dieses Projekt, das mir gerade so viel Bauchweh macht?"

Der aus Mindmaps, Zeitleisten, Fotos, Artikeln und Comics zusammengefügte Band verströmt eine unverbrauchte Begeisterung, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Gerade in der Vielfältigkeit der Zugänge, der Sichtweisen, Ansatzmöglichkeiten und Fragen weckt er Interesse und Neugier für das Thema.

Fiktive Begebenheiten

Hinzu kommt zum anderen die Methode der "fiktiven historischen Narration", die Fakt und Fiktion miteinander verknüpft, um die Lücken und offenen Fragen bewusst zu markieren oder denkbare Verläufe zu konstruieren. So versammelt der Band Geschichten, Szenen, fiktive Begebenheiten. "Sie alle sind wahr - nicht im Sinne von original, genau so passiert, sondern im Sinne von möglich." Die einzelnen Beiträge sind Bohrungen, wie beispielsweise der Comic über Franz Seelemann, eigentlich Selemani bin Juma, der als afrikanischer Junge nach Deutschland gebracht wurde und auf Umwegen an die Kolonialschule gelangte: "Ob Selemani bin Juma zeit seines Lebens aufgrund nicht zu erfüllender Träume oder unmöglich zu erfüllender Leidenschaften und Liebschaften ein stetes Gefühl der Sehnsucht in sich trug, ist nicht bekannt . . ."

Traurigster Referenzpunkt ist der Genozid an den Hereros und Namas (damals abschätzig als "Hottentotten" bezeichnet) zu Beginn des letzten Jahrhunderts in Deutsch-Südwestafrika, heute Namibia. Dessen Aktualität zeigt sich in den kürzlich an die deutsche Regierung gestellten Forderungen nach Entschädigungszahlungen für die beiden Volksgruppen.

Ganz anders taucht der Comicroman "Arsène Schrauwen" des belgischen Zeichners Olivier Schrauwen in das Thema ein. Obwohl es kaum Zweifel gibt, dass es sich um den Kongo handelt, reist die Hauptfigur mit dem Schiff zunächst an einen "fremden Ort, der ‚Die Kolonie’ genannt wurde", erst gegen Ende des gut 250 Seiten starken großformatigen Comics fällt beiläufig der Name Kongo. "In diesem Buch geht es um meinen Großvater Arsène", verkündet der Autor bereits im ersten Panel. Ob Schrauwens Geschichte tatsächlich etwas mit seinem Großvater zu tun hat, ist belanglos, doch der Hinweis erinnert an Joseph Conrads Satz in "Herz der Finsternis" über seine mysteriöse Hauptfigur Kurtz als Verkörperung kolonialer Gier: "Ganz Europa hatte bei Kurtz’ Entstehung mitgewirkt".

Schrauwen stellt einerseits von Anfang an einen persönlichen Bezug her, andererseits bleibt die Kolonie parabelhaft; die Verantwortung für den europäischen Kolonialismus lässt sich nicht als nationale Angelegenheit irgendeines Landes abtun.

Arsène kommt 1946 auf Einladung seines Vetters in die Kolonie. Doch anstatt in der erhofften Freiheit findet er sich in seinem Bungalow nach einigen Wochen in einer "tristen Gefängniszelle" wieder. "Jetzt war seine Welt nicht größer als der Rand seines Helms." Infiziert mit der Angst, er könnte sich durch einen ominösen "Elefantenwurm" anstecken, schottet er sich ab und hält sich von jedem Tropfen Wasser fern, bis seine Vorsichtsmaßnahme einer radikalen Trockenwäsche nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Trotz seiner Naivität und Ahnungslosigkeit wird Arsène, im Comic wiederholt als Esel dargestellt, in das Projekt "Freedom Town" seines Vetters Roger eingebunden. In seiner "irre[n] Genialität" hat dieser nichts Geringeres vor, als eine Zukunftsstadt zu errichten, die alle beengenden Regeln traditioneller Architektur sprengt. Das erste Wahrzeichen dieser Art trägt den sprechenden Namen "Krempeldenkmal" und spielt freimütig darauf an, wie sehr die Kolonien für Europa als Schrottplatz ungezähmter Ideenauswüchse dienen mussten.