Frankreich gehört mit Belgien zu den europäischen Ländern mit der wohl stärksten Comictradition, für die das renommierte internationale Festival in Angoulême (seit 1974) und das 1991 ebenda eröffnete Comicmuseum nur zwei sichtbare Statements darstellen. Zu bieten hat das Land vor allem eine lebendige und erneuerungsfähige Comicszene.

Dem vielleicht raffiniertesten, philosophischen Vertreter des französischen Comics, dem Zeichner Marc-Antoine Mathieu, wird auf der Frankfurter Buchmesse eine Ausstellung zu seinem Werk gewidmet: "Kartografie der Träume. Die Kunst des Marc-Antoine Mathieu", die noch bis 15. 10. im "Museum Angewandte Kunst" zu sehen ist. Spiegelungen, Schlaufen, Endlosschleifen und Pfeile mit wechselnden Richtungen durchziehen die Zeichnungen des 59-Jährigen.

Detailgenauigkeit

Die bis ins Detail choreografierten Comics in Schwarz-Weiß wirken aufs Erste spröde und rätselhaft. Erst nach und nach erschließt sich ihre Vielschichtigkeit und Detailgenauigkeit wie etwa in "3 Sekunden" (2012), jenem aus einem einzigen Zoom bestehenden Minikrimi aus Bildern ohne Text, der in schwindelerregenden Spiegelungen die vielen Facetten eines Tatorts und eines Verbrechens ausleuchtet.

Mit den formalen korrespondieren gedankliche Experimente: In seiner 1990 begonnenen Reihe "Julius Corentin Acquefacques, Gefangener der Träume", die mittlerweile sechs Teile umfasst, ist der Protagonist einem universalen Kontrollsystem ausgesetzt, mit undurchschaubaren, überdimensionalen Strukturen, die in verwinkelten Architekturen und babylonischen Bauten eindrucksvoll umgesetzt sind. Doch in ihren Träumen kratzt die gezeichnete Figur Acquefacques an ihren zweidimensionalen Begrenzungen und durchbricht immer wieder die Decke der zweiten Dimension. Das Kafkaeske verbürgt bereits ihr Name, der ein Lautpalindrom von Kafka (Akfak/Acquefacques) darstellt.

In "Otto", seinem letzten Comic von 2017, dessen Titel ebenfalls eine palindromische Spiegelung ist, treibt Mathieu das Spiel mit der Reflexion seiner Hauptfigur so weit, dass vor allem die Sackgassen des Unterfangens sichtbar werden. Der Spiegelkünstler Otto zelebriert in spektakulären Performances eine Art "Metaphysik der Spiegelung" und wird öffentlich als Star gefeiert. Die akrobatischen Versuche seiner Selbstreflexionen stellen sich als Illusion und Vorspiegelung heraus.

Dann stößt der Held auf eine Truhe im Haus seiner Eltern, die als Ergebnis eines zweifelhaften pädagogischen Experiments umfassende Aufzeichnungen und Dokumentationen, eine Art "Blackbox" seiner ersten sieben Lebensjahre enthält. Und Otto nimmt die Gelegenheit dieser ungewöhnlichen Selbstbegegnung an. Mathieus Comic erinnert darin an Umberto Ecos "illustrierten Roman" "Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana" (2004), in dem Giambattista Bodoni, genannt Yambo, bei einem Unfall sein biografisches Gedächtnis verliert und daraufhin Wochen im Großelternhaus in Solara verbringt, um in dem Archiv seiner Kindheit die Erinnerung wiederzufinden.

Während Ecos Yambo zwischen Heften, Büchern, Comics und Platten die dunkle Zeit des italienischen Faschismus rekonstruiert, lässt Mathieu seinen Otto in den dunklen Abgrund einer Truhe fallen, in dem er sich in einem Taumel aus "nur noch Ursache und zugleich Folge von Zufall und Notwendigkeit" auflöst, bevor er in seinen Träumen erneut einen Ausweg sucht.

Experimente

Auch wenn Mathieu darin unübertroffen sein dürfte, wie er seine Figuren an die Grenzen der Reflexion treibt, steht er mit seinen spielerischen, medienreflexiven Experimenten durchaus in einer Tradition. Denn Mathieu war Mitinitiator der Gruppe OuBaPo ("Ouvroir de Bande Dessinée Potentielle", etwa "Werkstatt für potentielle Comics"), deren experimentelle Grundhaltung im Medium des Comics an die bekanntere literarische Richtung OuLiPo ("Werkstatt für potentielle Literatur") anschloss.

Entstanden ist diese im Umfeld des 1990 von Jean-Christophe Menu, Lewis Trondheim, David B. und anderen gegründeten Comicverlags L’Association, der die frankophone Comicszene nachhaltig erneuern und prägen sollte. Das Verdienst der L’Association-Gründer war es, dass sie die verlegerische Freiheit für sich in Anspruch nahmen und bereit waren, neue Comicformate entsprechend den Bedürfnissen einer ganzen Generation junger Zeichner und Zeichnerinnen herauszubringen.

So entstanden in den 1990er Jahren so herausragende autobiografische Werke wie Lewis Trondheims Comic über seinen Pariser Alltag, "Approximate Continuum Comics" (1993-1994), David B.s in expressiven Bildern erzählte Kindheit mit seinem epilepsiekranken Bruder, "Die Heilige Krankheit" (1996-2003), und Marjane Satrapis berühmtes "Persepolis" (2000/2001) über ihre Kindheit und Jugend im Iran - übrigens mit einem punkigen Intermezzo in Wien.

Stets in Schwarz-Weiß, gemäß dem Markenzeichen des Verlags, wurden hier auf unterschiedliche Weise neue Wege erprobt. Vor allem aber wurde ein Signal ausgesandt: Dass die ästhetischen Möglichkeiten des Mediums noch bei weitem nicht ausgeschöpft sind.