"Natürlich nicht!" David Polonskys Ablehnung war deutlich und instinktiv, als Ari Folman ihm vor vier Jahren von der Anfrage des Anne-Frank-Fonds aus Basel erzählte. Der hatte ihm vorgeschlagen, ob er und Polonsky, sein kongenialer Illustrator ("Waltz with Bashir"), für eine Graphic Novel zu haben seien, die auf Anne Franks Tagebuch basiere. Der Widerwille verband die beiden. In einer langen Diskussion wägten sie das reflexhafte Wider und das wachsende Für ab. Das Produkt des Sinneswandels steht nun in den Buchhandlungen.
Es ist die erste illustrierte Version des Lebens der Anne Frank, die ausschließlich auf ihrem Tagebuch basiert. Genau diese Konstellation wurde für Folman und Polonsky zur zentralen Herausforderung: Wie kann man dem historischen Dokument gerecht werden, dem Inhalt gegenüber ehrlich bleiben, und dabei die eigene künstlerische Freiheit nicht einschränken? Folman und Polonsky betonen, man hätte ihnen alle Möglichkeiten gelassen.
Aufziehfiguren
Auf den knapp 150 Seiten haben die beiden davon reichlich Gebrauch gemacht. Sie folgen einerseits der strikten Chronologie des Tagebuchs. Wie mit einem Zoom illustrieren sie komplexe soziale Gefüge im Hinterhaus an der Prinsengracht, etwa wenn die acht Untergetauchten um den immer spärlicher gedeckten Tisch als Aufzieh-Figuren, von denen jede einen einzigen Satz endlos wiederholt, dargestellt werden. Dabei lassen sie sich vom bemerkenswerten Beobachtungsvermögen Anne Franks inspirieren.
Schließlich geraten mit der Vergrößerung einzelner Szenen auch der politische und gesellschaftliche Kontext in den Fokus. Etwa, wenn im besetzten Amsterdam des Sommers 1942 ein Schiffer die Frank-Schwestern, die als Jüdinnen weder Trams noch Fahrräder benutzen dürfen, auf die andere Seite eines Wasserlaufs bringt. Am Ufer steht eine Reklamesäule mit dem Filmposter von "Frauen sind doch bessere Diplomaten". Aus dem Mund der Protagonistin Marika Rökk kommt eine Sprechblase: "Ich trete nicht vor jüdischen Schweinen auf!" Hie und da unterbrechen Polonsky und Folman ihren eigenen Fluss und beschränken sich stattdessen auf vollständige Briefe Anne Franks an ihre fiktive beste Freundin Kitty. Meistens sind dies Stellen von großer Intimität.
Für die Künstler selbst macht der Holocaust Teil ihres alltäglichen Lebens in Israel aus. "Kein Tag vergeht, ohne dass er auftaucht", betont Polonsky, dessen unmittelbare Familie in der damaligen UdSSR den Nazis entkommen konnte. Anders sieht das bei Folman aus: Seine Eltern kamen am gleichen Tag wie die Franks in Auschwitz an, allerdings mit späteren Zügen. "Wenn Anne über Verhungern und das Fehlen von Brot schreibt, erinnert mich das sofort daran, dass meine Eltern niemals irgendwelches Brot wegwarfen. Mein Vater fror Reste ein, dann machte er Krumen draus und benutzte sie zum Kochen."
Die Vernichtungslager als Referenzpunkt gehörten in Folmans Familie von früher Kindheit an dazu. "Seit ich sechs war, hörte ich Geschichten über den Holocaust. In diesem Sinne war das, was die Familie Frank durchmachte, für mich nichts Sensationelles." Für seine künstlerische Auseinandersetzung mit Anne Franks Tagebuch, so Folman, sei es ein Vorteil, aus dieser Welt zu kommen. Zugleich erfuhr der Filmemacher durch seine Biographie eine Verpflichtung: das Projekt Graphic Diary wurde zu einer "Mission", die er unbedingt zu Ende bringen musste.
Neue Generationen
Die Getriebenheit hat einen zweiten Grund: Die letzten Überlebende werden älter und älter. Ari Folman macht sich Sorgen, dass sich der Blick auf die Shoah nach ihrem Tod immer mehr vom "Original" dessen entfernt, wie sie den erlebten Horror schilderten. Zugleich kommen neue Generationen nach, die für die bisherigen schriftlichen Quellen weniger empfänglich seien. "Sie wachsen auf mit einem Mobiltelefon in der einen Hand und Joystick in der anderen. Deshalb sind ihre Werkzeuge völlig anders als die, die wir vor Jahren hatten."
Betrachtet man das Ganze von Seiten des Anne-Frank-Fonds, ist die Anfrage an Folman und Polonsky logisch. In Basel bemüht man sich schon seit längerem dem Gedenken neue Ausdrucksformen zu verleihen - etwa mit einem Theaterstück, das 2014 in Amsterdam uraufgeführt wurde. Folman und Polonsky arbeiten aktuell auch an einem Animationsfilm, der 2019 fertig werden soll. "Eine globale Antwort habe ich nicht", so der Filmemacher auf die Frage nach einer neuen Sprache der Erinnerung. "Ich weiß nur, dass wir eine finden müssen, sonst wird die junge Generation davonlaufen. Dies ist unser Beitrag."