Der "Erikativ"
In Deutschland erschien die Micky Maus in Heftform ab 1951, geleitet von der zu Recht berühmten Erika Fuchs, die den Disney-Comics eine ganz eigene Sprache ihre eigene, aus Pommern, noch aus der Kaiserzeit stammende verlieh. Sie bereicherte die deutsche Sprache um den "Erikativ", eine verbale Kurzform, die heute praktisch in jedem E-Mail vorkommt.
"Gäääähn!", schreibt mir eine Freundin über einen Horrorfilm, als Kurzrezension. "Stöhn, jammer, wimmer", sagt auch schon jeder; und der Mann, der mit seiner Freundin am Westbahnhof umherflaniert, tätschelt ihr nicht nur zärtlich den Po, er sagt auch noch "tätschel" dazu. Dank Erika Fuchs.
Aber obwohl "Das Erika Fuchs Buch" die Verdienste der Editrice ausgiebig feiert Mickey kommt darin so gut wie gar nicht vor, auch nicht als Micky. Er spielt hinter Donald Duck eindeutig die letzte Geige. In ganz Europa liebt man den Enterich wohl nirgends mehr als in Finnland den "Aku Ankka", den "Onkel Ente". Einzig in Italien hält man dem Mäuserich die Stange.
Die hinreißendsten Klassiker-Ausgaben mit den Comics von Gottfredson und Scarpa gibt es in Italien in vorbildlichen Editionen, sorgsam eingefärbelt. Zugegeben, auch in Frankreich. Wer ein bisschen Latein und Französisch in der Schule gehabt hat, kommt damit klar, und neuerdings gibt es Gottfredson-Reprints auch in Amerika, in Original Schwarz- Weiß.
Prozess der "Neotenie"
Aber wie steht es um jene wunderbaren Mickey- und Goofy-Comics der Fünfzigerjahre, mit den meisterhaften Zeichnungen eines Paul Murry? Jene Geschichten, die heute jeder kennt, mit den bärtigen Schurken, mit Kater Karlo, mit Kommissar Hunter, mit den seltsam ungeschickten Reitpferden? Murry kam, wie Disney, aus Missouri, und er versetzte seine Geschichten ins ländliche Amerika der Großen Depression. Überall in Goofys schäbiger Hütte stehen leere Konservendosen herum, um den Regen aufzufangen, der durchs löcherige Dach hereinplätschert.
Vielleicht wird man sich jetzt, rechtzeitig zu Mickeys Neunzigstem, daran erinnern, einen Murry-Sonderband herauszubringen, aber sicher kann man sich da nicht sein. Als Murry seinen Hunderter hatte, herrschte nur Schweigen im Walde, dafür feierte man den Sechziger der Panzerknacker.
Immerhin, in Italien gibt es eine "Philosophie des Mäuserichs", und dazu an prominenter Stelle, auf dem Cover, ein Zitat aus einer scherzhaften biologischen Einschätzung der "kleinen Ratte" von Stephen Jay Gould, dem zu Lebzeiten ausgesprochen bekannten und journalistisch aktiven amerikanischen Paläontologen und Entwicklungspsychologen. Gould beschreibt bei Mickey den biologischen Prozess der Neotenie, der Verjugendlichung, der auch bei uns Menschen typischerweise vorkommt, indem wir, auch im gehobenen Alter, noch kindliche Züge aufweisen.
So konstatiert Gould, dass Mickey, der zu Beginn seiner Karriere noch echt erwachsene Rattenmerkmale aufwies, je älter er wurde, umso rundlichere, babyhaftere Formen annahm. (Der Aufsatz findet sich im Internet und auf Deutsch auch, samt den dazugehörigen Illustrationen, in der Essaysammlung "Der Daumen des Panda", bei Suhrkamp.)
"Auch wir", schreibt Gould, "werden, wie Mickey, nie erwachsen, obwohl wir, leider, immer älter werden." In der italienischen Fassung endet er mit dem Ausdruck der Hoffnung, dass auch wir Menschen, wie Mickey, bei fortschreitendem Alter im Herzen jung bleiben mögen. In Italien liebt man diesen Topolino eben.