
"In einem gewöhnlichen Buch hätte man eine so komplexe Geschichte nicht wiedergeben können." Um die Zusammenhänge, die der Fotograf Carlos Spottorno und der Journalist Guillermo Abril zwischen 2014 und 2016 an verschiedenen Außengrenzen Europas beobachtet, recherchiert und festgehalten hatten, am besten zum Ausdruck zu bringen, mussten die Autoren von "Der Riss" (2017) erst eine eigene Sprache entwickeln. Dabei sind sie auf den Comic gestoßen und bedienten sich seiner Form, da sich hier Text und Bild am besten gegenseitig bereichern würden.
Noch dezidierter als in "Der Riss" wird der Comic in "Lampedusa. Bildgeschichten vom Rande Europas" (2017) als geeignetes Gegenmodell anderen Medien gegenübergestellt, wenn es um die Darstellung komplexer Themen wie der europäischen Asyl- und Grenzpolitik geht. Die Sätze Jan Wenzels von der Migrant Image Research Group sind Plädoyer und Manifest zugleich: "Das fotografische Bild braucht die Zeichnung heute mehr denn je als ein Gegenüber. Der Akt der Übersetzung von Wirklichkeit, die Anteile an Interpretation, Stilisierung und Imagination, die jeder Zeichnung eingeschrieben sind, machen sie im gegenwärtigen Moment vielleicht zu einem vertrauenswürdigeren Medium, zu einer Darstellungsweise, die der Komplexität der heutigen Welt angemessener ist als die Fotografie."

Auch die Herausgeberinnen von "Tausend Bilder und eins. Comic als ästhetische Praxis in der postmigrantischen Gesellschaft" (2017), Angela Weber und Katharina Moritzen, setzen auf die spezifischen Möglichkeiten des Mediums, die sie in einem Projekt zusammen mit Schülern auszuloten suchten: "Im Comic als einem Zwischenraum par excellence lassen sich Erfahrungen darstellen, verarbeiten und künstlerisch überformen, Grenzen überschreiten und verschieben, Räume neu definieren und erschaffen."
Es ist die konstruktive Fertigkeit des Mediums, die hier in unterschiedlichen Kontexten hervorgehoben wird. Hintergrund für die Fotografie-Kritik der Migrant Image Research Group in "Lampedusa" ist jene allgemein erfahrbare Überflutung mit fotografischen Bildern, die seit der Digitalisierung vielfach feststellbar ist. Mit ihrer Allgegenwärtigkeit und manipulativen Einsetzbarkeit sei das Vertrauen des Betrachters verloren gegangen, das auf dem "Versprechen der Faktizität und Wahrhaftigkeit" gründete.
Als der italienische Fotokünstler Armin Linke 2010 zu einer Ausstellung nach Lampedusa eingeladen wurde, weigerte er sich, weitere Fotos zum Thema Asyl zu produzieren. Stattdessen rief er eine Gruppe von Künstlern und Forschern der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe ins Leben, die sich jahrelang intensiv mit der Frage der Bildproduktion im Zusammenhang mit europäischer Asyl- und Migrationspolitik auseinandersetzte. Der nun erschienene Band vermittelt faszinierende Einblicke in gängige Bilderpolitiken und überraschende Erkenntnisse zu politischen Praktiken, etwa jener Strategie europäischer Grenzpolitik, die die Schließung von Flüchtlingsrouten als Rettungsakte umdeutet.