
"Wiener Zeitung": Warum ist die Kurdenfrage oder die armenische Frage so wichtig, um die Türkei zu verstehen?
Hamit Bozarslan: In der Geschichte des späten Osmanischen Reiches gab es sehr viele Massaker. 1914 lebten 20 Prozent Christen in den türkischen Territorien. Diese wurden ausgerottet oder aus dem Land vertrieben. Das war ein Trauma für diese Communities - aber auch für die Türkei. Jeder weiß, dass es ein Verbrechen war und die heutige muslimische Mehrheit hat von diesem Verbrechen profitiert. Die neue türkische Republik wurde gegründet auf der Basis dieses Verbrechens und das schafft großes Unbehagen und auch aggressiven Nationalismus. Dieser besagt, dass vor allem die Türken die Opfer waren. Sie sind von jeher von äußeren und inneren Feinden bedroht. Und die Türkei, die vom Osmanischen Reich überblieb, ist jetzt bedroht von Europa, den USA und natürlich den sogenannten Kollaborateuren, vornehmlich den Kurden. Die Geschichte der Türkei ist also eine Geschichte voll Feindseligkeit und Aggressivität.
Was bedeutet es in diesem Kontext, türkisch zu sein?
Die Definition hat sich im Laufe der Zeit geändert und sie hängt auch davon ab, mit wem man spricht. Türkische Liberale oder demokratische Linke werden diese türkische Identität ablehnen. Aber der staatliche Diskurs darüber, Türke zu sein, definiert sich in erster Linie darüber, von anderen bedroht zu sein. Von außen wie innen. Die Feindschaft ist also die Basis der Konstruktion der nationalen Identität. Ein offizieller Diskurs in der Türkei lautet seit einigen Jahren, dass der Erste Weltkrieg kein europäischer Krieg war, sondern nur auf die Zerstörung des Osmanischen Reiches abzielte. Und die entscheidende Schlacht wird noch kommen. Die Feinde verfolgen nach wie vor das Ziel, die Türkei zu zerstören. In diesem Diskurs wird aber etwa verschwiegen, dass das Osmanische Reich etwa Verbündeter von Österreich-Ungarn und Deutschland war. Historische Ereignisse werden total verfälscht. Für die Mehrheit in der Türkei bedeutet das ein ständiges Gefühl der Beunruhigung, des ständig im Krieg seins.
Wer ist denn der Feind in diesem Diskurs?
Man weiß nicht, wer der Feind ist, außer, dass er immer noch da ist. Und da man an den externen Feind nicht heranreicht, muss man den internen Feind bekämpfen. Das sind hauptsächlich die Kurden. Aber auch die Aleviten, die etwa 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen, sie unterscheiden sich zudem stark von der türkisch-sunnitischen Gemeinschaft. Und die wenigen linken, demokratischen, intellektuellen Schichten gelten auch klar als Feinde, weil diese die Nation verraten und mit den äußeren Feinden kollaboriert hatten. Diese Konstellation schafft Beunruhigung, und in jeder Krise kann diese Beunruhigung reaktiviert und radikalisiert werden. Die extreme Rechte spielt damit, aber auch die AKP des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Seit ein paar Monaten gibt es diesbezüglich eine enge Allianz zwischen beiden Fraktionen.
2015 scheiterte der Friedensprozess mit den Kurden unter Erdogan. Gab es je den Willen, eine inklusive, pluralistische Gesellschaft zu werden?
Aktuell gibt es kein Interesse an einem Friedensprozess. 2013/14, als der Prozess im Gang war, hatte man auch da nicht das Ziel, die Kurden zu integrieren oder etwa die Türkei zu erneuern auf einer neuen pluralistischen, gleichgestellten Basis. Die Kurden sollten der türkischen Mehrheit quasi zu Diensten stehen. Von einer Anerkennung der Kurden als Bestandteil einer neuen Türkei war nicht die Rede. Und schon gar nicht davon, die Aleviten den Sunniten gleichzustellen. Die Anerkennung der Armenier, der Griechen etc. als Gründungscommunities einer neuen Türkei war ausgeschlossen. Die kurdische Bewegung hat sich etwa sehr stark gemacht, den Genozid an den Armeniern anzuerkennen und die Integration und Gleichstellung von Gleichstellung von sexuellen Minderheiten (LGBT) gefordert. All das ist für das Erdogan-Regime inakzeptabel. Lediglich den Kurden wurde zugestanden, dass sie existieren und sie akzeptiert werden. Aber nicht als eigene ethnische Gruppe, sie müssten sich assimilieren und unterordnen. Die Idee eines pluralistischen Staates, einer pluralistischen Gesellschaft ist vollkommen aufgegeben und verdammt worden von Erdogans Diskurs, den er nicht müde wird stets zu wiederholen: eine Nation, ein Land, eine Flagge und immer mehr auch nur ein Herrscher. Für Erdogan verkörpert der Herrscher die Geschichte und die Zukunft. Er und die Nation müssen eine organische Einheit bilden.
Die Kurdenfrage dominiert, spricht man über Minderheiten in der Türkei. Wie geht es anderen Minderheiten, etwa Christen oder Juden im Land? Aber auch LGBT - haben sie eine Stimme?
2015 hat Erdogan erklärt, dass die Kreuzritter aus der armenischen Diaspora, der jüdischen Lobby, Jesiden und Homosexuellen bestanden. Diese Gruppen sind also stigmatisiert, sie werden im politischen Diskurs diskriminiert. Sie haben kein Mitspracherecht in irgendeinem politischen Kontext. Die nicht-muslimische Community in der Türkei besteht zum Teil aus Christen und Juden, aber ihre Zahl beschränkt sich nunmehr auf offiziell nicht einmal 100.000 Menschen. Ich sage offiziell, denn nach dem Genozid an den Armeniern wurden viele armenische Frauen gezwungen, zum Islam zu konvertieren. Viele ihrer Nachkommen sind offiziell muslimisch, aber sie identifizieren sich immer weniger damit. Jesiden gibt es in der Türkei vielleicht maximal 20.000 - in einem Land mit 80 Millionen Einwohnern. Im Grunde sind diese Gruppen ob ihrer Größe nicht wirklich wichtig, aber im politischen Diskurs werden sie immer noch hervorgehoben, als solche, die die nationale Einheit zerstören. Bezüglich LGBT gibt es eine offene Kampagne gegen diese Menschen und gegen jegliche Aktivitäten dieser Gruppen. Außer militanten Linken und der kurdischen Partei tritt niemand für ihre Rechte ein.