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1934: Alles oder nichts

Von Hellmut Butterweck

Februar 1934

Vor 70 Jahren schossen Österreicher auf Landsleute: Ein Ereignis, das die politischen Lager bis heute trennt.


Die jüngsten Überlebenden der Februarkämpfe des Jahres 1934 sind heute an die 90 Jahre alt. Die Zeiten, da sofort die Emotionen hochgingen, wenn die Rede auf den 12. Februar kam, sind vorbei. Trotzdem ist er noch immer der wundeste Punkt in der Beziehungsgeschichte der beiden großen politischen Lager.

Wie konnte es in Österreich, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg einen Ruf als Insel der Seligen erwarb, zum Bürgerkrieg kommen? Wie konnte es dazu kommen, dass Arbeiter die versteckten Gewehre und Maschinengewehre ausgruben, dass das Bundesheer mit Artillerie auf die Wiener Gemeindebauten schoss, nicht nur auf Aufständische, sondern auch auf Frauen und Kinder?

Keine Zeit des Konsens

Die zwei Jahrzehnte zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg waren in ganz Europa keine Zeit des Konsens. Sie waren Alles-oder-nichts-Zeiten. 1918 gab es in Europa plötzlich eine Reihe junger Republiken ohne Erfahrung mit Demokratie. Die Sozialisten hatten die Demokratie auf ihre Fahnen geschrieben, doch sahen viele in ihr nur ein Durchgangsstadium zum Sozialismus. Ihre Führer mussten sich dagegen wehren, von den Bürgerlichen mit den Kommunisten in einen Topf geworfen zu werden und die Arbeiterschaft, in der viele mit den Kommunisten liebäugelten, mit radikalen Reden bei der Stange halten.

Rechts gab es Katholiken und Nationale, Konservative aller Spielarten, Monarchisten, halbe und ganze Faschisten, viele Vorstellungen vom starken autoritären Staat und viel Hass und Misstrauen gegen die Sozialisten.

Eingefrorenes Ritual

Als Bundeskanzler Engelbert Dollfuß die Parlamentspanne vom 4. März 1933 dazu benützte, den autoritären Ständestaat zu errichten, war Österreich zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und dem faschistischen Italien eingeklemmt, auch Ungarn und Jugoslawien hatten autoritäre Regimes, die einzigen demokratischen Nachbarn waren die Schweiz und die Tschechoslowakei. Die Debatte, ob Engelbert Dollfuß die Demokratie freudig abschaffte oder sich mit dem Revolver des Heimwehrgrafen Starhemberg im Rücken und den Wahlsieg der Nazis vor Augen widerstrebend dazu gezwungen sah, hat längst Züge eines eingefrorenen Rituals.

Die historischen Fakten sprechen ihre eigene Sprache und erzählen die ganze Geschichte. Wer die Wirklichkeit in eine einheitliche Farbe tauchen will, muss welche weglassen. Die Konservativen tun sich nach wie vor mit dem Dollfuß schwer, der die Sozialdemokraten bis zur totalen Verzweiflung in die Ecke trieb und dann mit dem Bundesheer erledigte. Die Linke tut sich mit dem eingeschworenen Hitlergegner Dollfuß und mit dem Begriff des Märtyrers schwer. Dollfuß hat aber nun einmal die Sozialdemokraten, die stärkste Partei, aus dem Parlament gejagt und dann zusammengeschossen, und er wurde nun einmal wenige Monate nach dem 12. Februar, am 25. Juli 1934, von den Nazis, die die Macht im Staat an sich reißen wollten, ermordet.

Einmal Hitler getrotzt

Das Bundesheer hat nun einmal zur größten Verblüffung der Nazis, die das Militär auf ihrer Seite sahen, nicht nur den sozialdemokratischen, sondern auch den Nazi-Aufstand niedergeschlagen und einem Hitler, den man selten so zornig gesehen hatte, getrotzt. Der Mann, unter dem dann Österreich den braunen Bach runterging, hieß nun einmal nicht Dollfuß. Doch das ist eine andere Geschichte.

Nach dem 5. März 1933 wird bald erkennbar, dass Engelbert Dollfuß das Land ohne die Sozialdemokraten führen will. Die Sozialdemokraten wollen über die "Lösung der Parlamentskrise" verhandeln, wozu es nie kommt. Die Würfel sind unwiderruflich gefallen. Der Staat, der nun entsteht, hat einiges mit dem Faschismus Mussolinis gemeinsam, an den sich Dollfuß anlehnt, aber wenig mit Hitlers Nazistaat. Er ist primär katholisch und nicht faschistisch, daher fehlt ihm die spezifisch faschistische Gewaltsamkeit. Dollfuß führt die Todesstrafe wieder ein, Österreich hat Anhaltelager, doch werden dort keine Menschen umgebracht.

Kein großmütiger Sieger

Ein großmütiger Sieger war Dollfuß aber auch nicht. Todesurteile wurden bei ihm unbarmherzig vollstreckt. Friedrich Funder, der ihn in einem Fall zu einem Gnadenakt überreden wollte, biss auf Granit.

Die sozialdemokratischen Führer sehen, wie Dollfuß, statt zu verhandeln, ihren Spielraum immer mehr einengt. Sie signalisieren Gesprächsbereitschaft. Der Bundeskanzler könnte sie in die Politik zurückholen, ohne die Blockade der Entscheidungsprozesse befürchten zu müssen, der er am 5. März 1933 ein Ende hatte machen wollen.

Theodor Körner warnt

Aber es ist eben die Zeit des Alles oder Nichts. Die Arbeiterführer wissen so gut wie ihre Gegner, dass ihre paramilitärische Organisation, der Republikanische Schutzbund, gegen das Bundesheer keine Chance hat. Auch der alte kaiserliche General Theodor Körner warnt. Doch falls es die Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen, überhaupt noch gibt, schwindet sie von Woche zu Woche dahin.

In dieser Zwickmühle lässt der oberösterreichische Schutzbundführer Richard Bernaschek die Parteiführung wissen, dass er sich der geplanten Suche nach den im Linzer Hotel Schiff versteckten Waffen widersetzen wird. Ihre Telefongespräche werden abgehört. Der rabiate Flügel des Ständestaates, die Heimwehr unter dem Grafen Starhemberg, will sich die Gelegenheit zum Showdown nicht entgehen lassen.

Schutzbund nicht vorbereitet

Der Schutzbund ist auf den Aufstand nicht vorbereitet. Nach der Stromabschaltung durch die streikenden Elektrizitätsarbeiter fällt auch das Telefon aus. Botengänger kommen durch die Sperren des Bundesheeres nicht mehr durch. Wo die Schutzbündler kämpfen, im Heiligenstädter Karl-Marx-Hof, im Floridsdorfer Schlingerhof, an vielen Stellen in Wien und im Osten und Süden Österreichs, tun sie es auf verlorenem Posten, auf sich allein gestellt, an manchen Stellen tagelang. Wer hätte den Mut, ihnen im Nachhinein bessere Vorbereitung, bessere Kommunikation, ein längeres Aushalten zu wünschen - das nur noch mehr Blutvergießen bedeutet hätte?

Der Aufstand hatte keine Chance. Für das Selbstverständnis der Sozialdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg war das Heldenepos des 12. Februar 1934 von höchster Wichtigkeit. Aber hätten sich die Führer des Ständestaates ohne die Gräben und die Gräber des 12. Februar einer der mächtigsten Ressourcen im Abwehrkampf gegen Hitler, der Arbeiterschaft und ihrer Partei, nicht vielleicht doch bedient?

Plansoll an Beschimpfungen

Der Bürgerkrieg kostete rund 300 Tote. Neun Sozialisten wurden hingerichtet, rund 10.000 eingesperrt. Zahllose Familien standen vor dem Nichts. Die in die Sowjetunion geflohenen Schutzbündler, mit den Familienmitgliedern rund 1.000 Menschen, wurden zwar gefeiert, hatten aber bald ein immer höheres Plansoll an Beschimpfungen ihrer einstigen Führer zu erfüllen. Manche kehrten heim, trotz der drohenden Strafen. Andere fielen im Spanischen Bürgerkrieg, gerieten in die große stalinistische Säuberung oder zwischen die Mühlsteine des Hitler-Stalin-Paktes oder fielen später in der Roten Armee. Mehrere wurden bei Brest-Litowsk vom NKWD Hitlers Gestapo übergeben.

Gustav Deutsch, der wegen seiner Begeisterung für die Sowjetunion in Konflikt mit seinem Vater Julius Deutsch geraten war, wurde an einem Sommertag des Jahres 1939 verurteilt und erschossen. Seine Frau verbüßte acht Jahre Lager. Heinz Roscher, als Schutzbundkommandant von Floridsdorf eine Schlüsselfigur der Februarkämpfe und der Schutzbund-Emigranten in der Sowjetunion, wurde Anfang Februar 1938 gegen Mitternacht abgeholt. Er starb in der Haft an "Herzschwäche". Margarete Buber-Neumann traf auf einem Gefangenentransport drei oder vier Schutzbündler, deren Namen sie sich nicht merkte. Zwei Floridsdorfer "Schutzbundkinder", mittlerweile 17 oder 18 Jahre alt, wurden von einem Schutzbundobmann in einem Durchgangslager in Swerdlowsk gesehen, wo eine ganze Kinderkolonie den Weg ins Lager antrat. (Nachzulesen bei Karl R. Stadler, "Opfer verlorener Zeiten - Geschichte der Schutzbundemigration 1934", Wien 1974).

Andere verschlug es zumindest geographisch in die ganz andere Richtung. Richard Bernaschek konnte, wie berichtet, in der Nacht auf den 3. April 1934 mit zwei Genossen aus dem Gefängnis nach Deutschland fliehen. Er wurde später von den Nazis in Mauthausen ermordet. Sein Begleiter Otto Huschka machte nach dem Krieg bei der FPÖ Karriere.

Der dritte Entflohene hieß Franz Schlagin und musste sich Ende März 1949 vor dem Linzer Volksgericht wegen Hochverrat verantworten, weil er in Deutschland in Hitlers "Österreichische Legion" eingetreten war. Mit Bernaschek am 12. Februar 1934 im Hotel Schiff gefangen genommen, hatte er, wie er dem Gericht erklärte, die Todes- oder eine langjährige Kerkerstrafe vor Augen, als ihm der Justizwachebeamte und illegale Nationalsozialist Karl Dobler die Möglichkeit eröffnete, nach Deutschland zu fliehen.

Er marschierte 1938 siegreich in Linz ein, wo er es 1942 zum Gaurevisor von "Oberdonau" im wohlklingenden Rang eines Gauhauptstellenleiters brachte. Da ihm sonst nichts zur Last lag, gelangte das Gericht zur Ansicht, das Angebot zur Flucht sei in der gegebenen Situation unwiderstehlich gewesen und fällte einen glatten Freispruch.