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Entlarvter Mythos, umkämpfte Person

Von Walter Hämmerle

Februar 1934

Vor 75 Jahren nutzte Dollfuß eine Lücke in der Geschäftsordnung für die Ausschaltung des Parlaments.


Wien. "1933 scheint ein ungeliebtes Datum in unserem Geschichtskanon zu sein, das man besser nicht thematisiert." Der Wiener Zeithistoriker Oliver Rathkolb formulierte am Dienstag anlässlich einer Festsitzung des SPÖ-Parlamentsklubs zum 75. Jahrestag der Ausschaltung des Parlaments diese in Österreich nach 1945 über Jahrzehnte weit verbreitete Scheu der Auseinandersetzung mit den aufwühlenden Ereignissen des Jahres 1933.

Massenelend und Radikalisierung

Die christlich-soziale Regierung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß regierte mit dem kleinstmöglichen Vorsprung von nur einer Stimme. Die innenpolitische Radikalisierung schritt immer weiter fort - befeuert von der zunehmenden Kluft zwischen der oppositionellen Sozialdemokratie und der Regierung sowie dem Erstarken der Nationalsozialisten. Und hinter all dem stand die Verelendung immer größerer Bevölkerungskreise samt Massenarbeitslosigkeit, hervorgerufen von den Folgen der Weltwirtschaftskrise.

In dieser Situation spielte Dollfuß eine Lücke in der Geschäftsordnung des Nationalrats in die Hand: Am 4. März 1933 trat nach einem Streit über ein Abstimmungsergebnis das gesamte dreiköpfige Präsidium des Nationalrats zurück. Die Mandatare gingen, selbst überrascht von dieser unvorhergesehenen Entwicklung einigermaßen ratlos auseinander, ohne dass die Sitzung ordnungsgemäß geschlossen worden wäre. Die Geschäftsordnung hatte für diese Situation schlicht keine Lösung parat.

Mit einigem guten Willen hätte sich die kuriose Situation zweifellos bereinigen lassen, allein, Dollfuß - und mit ihm die antidemokratische Heimwehr samt weiten Teilen der Wirtschaft - sah darin unter Rückgriff auf eine Notverordnung aus der Zeit der Monarchie eine Gelegenheit, das Parlament auszuschalten und einen autoritären Ständestaat zu errichten. Der Schwarze Peter jedoch sollte dem Parlament zugeschoben werden: der Mythos von dessen "Selbstausschaltung" war geboren. Einen späteren Versuch der Abgeordneten, die unterbrochene Sitzung vom 4. März wieder aufzunehmen unterband das Regime mit Polizeigewalt.

Dollfuß wollte sich mit den Mitteln der Diktatur und gestützt auf die Unterstützungszusagen des ebenfalls faschistischen Italien gegen den zunehmenden Druck der Nazis wappnen. Auf einen - damals eventuell noch möglichen - Ausgleich mit den oppositionellen Sozialdemokraten verzichtete das Regime.

Das Konzept ging nicht auf: Der Konflikt mit der SPÖ eskaliert im Februar 1934 zum blutigen Bürgerkrieg. Dollfuß selbst wird am 25. Juli des selben Jahres von den Nazis im Zuge eines Putschversuchs ermordet. Und unter seinem Nachfolger Kurt Schuschnigg erodiert die Machtbasis des Regimes weiter - bis zur Kapitulation. Am 9. März 1938 kündigt Schuschnigg die Abhaltung einer Volksbefragung über Österreichs Unabhängigkeit für den 13. März an. Am 11. März reicht er jedoch nach einem Ultimatum Hitlers seinen Rücktritt ein, am darauf folgenden Tag marschieren deutsche Truppen in Österreich ein. Widerstand wird nicht geleistet.

"Arbeitermörder" oder "Patriot und Märtyrer"

Heute, so Rathkolb, gebe es keinen Streit mehr um die Bewertung der Ereignisse vor 75 Jahren. Die "Selbstauflösung" wurde als Mythos entlarvt, Dollfuß Schritt werde auch von der ÖVP längst als Staatsstreich gewertet. Keinen Konsens zwischen den beiden großen Parteien gebe es jedoch in der Bewertung der Person Dollfuß und ihrer Motive. Diese reiche von "Arbeitermörder" (Hannes Androsch) über "Patriot und Märtyrer" (Andreas Khol).

Diese Diskussion setzt der Zweite Nationalratspräsident Michael Spindelegger (ÖVP) fort, der dem Bild von Dollfuß als Totengräber der Demokratie jenes vom Kämpfer gegen den Nationalsozialismus gegenüberstellt. Aus diesem Grund werde auch weiterhin dessen Porträt im ÖVP-Klub hängen bleiben. Bleibt abzuwarten, wie die für Herbst geplante Ausstellung zum Jubiläumsjahr 2008 mit der heiklen Person des Ex-Kanzlers umgehen wird.

In diesem Zusammenhang hält es Rathkolb für "demokratiepolitisch erschütternd", dass auf die Frage, ob Dollfuß die Demokratie zerstört hat, nur je 20 Prozent mit ja und nein antworten, 48 Prozent jedoch keine Meinung zu dieser Frage haben.

Die Geschäftsordnungslücke, die 1933 die Krise herbeirief, wurde übrigens 1948 geschlossen. Seitdem führt bei einem Rücktritt aller drei Nationalratspräsidenten der älteste Abgeordnete der stimmenstärksten Partei den Vorsitz

Die SPÖ nutzte die Festveranstaltung auch für ein Plädoyer für eine neue Streitkultur. Klubchef Josef Cap warnte vor einer Diskreditierung politischer Diskussionen als Streit, dadurch würde es unmöglich, unterschiedliche Positionen zu artikulieren. Nationalratspräsidenten Barbara Prammer betonte - wohl in Anspielung auf die laufende Diskussion über die U-Ausschüsse - den Wert parlamentarischer Kontrolle für die Demokratie.