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Indischer Vergewaltiger verhöhnt Opfer

Von Philipp Hedemann

Frauentag

Von wegen die andere Wange: Die christliche NGO "World Vision" lehrt Überlebende sexueller Gewalt zurückzuschlagen.


Delhi. "Ein anständiges Mädchen würde nicht um 21 Uhr noch draußen herumlaufen", sagt der verurteilte Mörder und Vergewaltiger einer indischen Studentin in einer vom indischen Sender NDTV und der britischen BBC produzierten TV-Dokumentation, die zum Frauentag am 8. März ausgestrahlt werden soll.

Das Interview mit dem verurteilten Mörder sei mit Genehmigung der Regierung in einem Gefängnis in Neu Delhi geführt worden, betont eine Sprecherin für die Produktion der Sender NDTV und BBC. Der Vergewaltiger beschuldigt das Opfer auch, die falschen Kleider getragen zu haben: "Mädchen sollten sich um den Haushalt kümmern und sich nicht in Discos und Bars herumtreiben."

Die Studentin war im Dezember 2012 mit ihrem Freund zusammen auf dem Heimweg von einem Kinobesuch, als sie in einen Bus gelockt wurde. Eine Gruppe Männer fiel dann über sie her, vergewaltigte und folterte sie. 13 Tage später starb sie an ihren inneren Verletzungen. Die Täter wurden zum Tode verurteilt; derzeit läuft noch ein Berufungsverfahren. Der Vergewaltiger sagt im TV-Interview weiter, die Studentin wäre noch am Leben, wenn sie sich nicht gewehrt hätte: "Sie hätte einfach ruhig sein sollen und die Vergewaltigung geschehen lassen. Dann hätten wir sie abgesetzt, nachdem wir mit ihr fertig waren."

Doku in Indien verboten

Ein indisches Gericht hat nun die Ausstrahlung der Dokumentation in Indien verboten. Innenminister Rajnath Singh verteidigte am Mittwoch im Parlament ausdrücklich die Entscheidung: Die Worte eines der Vergewaltiger im Film seien "in hohem Maße herabwürdigend" und ein "Angriff auf die Würde der Frauen". Die britische Regisseurin des Films, Leslee Udwin, sprach dagegen von "willkürlicher Zensur".

Der indische Fernsehsender NDTV wollte den Film "India’s Daughter" ("Indiens Tochter") eigentlich zum internationalen Frauentag am Sonntag ausstrahlen. Am selben Tag soll er auch in sechs anderen Ländern zu sehen sein. Regisseurin Udwin ist überzeugt, dass NDTV das Verbot anfechten werde. Meinungs- und Redefreiheit seien auch in Indien ein hohes Gut. Im Übrigen verhelfe das Verbot ihrem Film nur zu mehr Publizität. Jetzt wollten alle ihn sehen. NDTV hat sich noch nicht dazu geäußert.

Karate gegen Kriminelle

"Ich möchte nicht wie Nirbhaya (das Opfer der Vergewaltigung von Dezember 2012, Anm.) enden. Lieber würde ich selbst töten, als vergewaltigt und getötet zu werden", sagt Vandana Sonkhar. Dann packt sie die Angreiferin mit dem Messer, dreht ihr die Waffe aus der Hand und hält ihr die Klinge an die Kehle.

Eigentlich heißt Nirbhaya Jyoti Singh Pandey, doch weil sie noch im Sterben gegen ihre Peiniger aussagte, nennt ganz Indien sie Nirbhaya, die Furchtlose. Seither lernen immer mehr Inderinnen sich zu verteidigen, und auch die Politik hat erkannt, dass die knapp 600 Millionen indischen Frauen und Mädchen besser geschützt werden müssen.

Laut Statistik wird im 1,2-Milliarden-Einwohner-Staat alle 22 Minuten eine Frau vergewaltigt. Und das sind nur die offiziellen Zahlen. Die Dunkelziffer liegt um ein Vielfaches höher. In einer Befragung des amerikanischen International Center for Research on Women aus dem Jahr 2012 gaben 73 Prozent aller in Delhi befragten Frauen und Mädchen an, dass Frauen in ihrer Umgebung sexueller Gewalt ausgesetzt seien.

Auch Vandana hatte Angst, eine weitere Zahl in der Vergewaltigungsstatistik zu werden. Doch mittlerweile müssen die Täter eher Angst vor ihr haben. Mit einem Mann, der sie wochenlang telefonisch sexuell belästigt hatte, verabredete die Studentin sich auf einem Markt. Was der Stalker nicht wusste: Vandana hatte 50 Mädchen mitgebracht. "Ich habe dem Typen gesagt: ‚Ich könnte deine Tochter sein. Schäm dich!‘ Dann habe ich ihm eine gescheuert", berichtet die Studentin.

Damit hatte der etwa 50-Jährige noch Glück, denn im Selbstverteidigungskurs, der von der Hilfsorganisation "World Vision" und der indischen Polizei angeboten wird, hat Vandana auch härtere Techniken gelernt: den Angreifer mit einer Haarnadel ins Auge zu stechen, ihn mit einem Schal zu strangulieren, ihm Rippen und Schlüsselbein zu brechen oder ihm das Knie zwischen die Beine zu rammen. Die Trainer nennen diese Stelle den Hauptpunkt. "Es soll dem Mann so sehr weh tun, dass er nie wieder auf die Idee kommt, ein Mädchen anzugreifen", sagt Vandana.

Eine christliche Hilfsorganisation, die Mädchen beibringt, Männer schwer zu verletzen, ist das nicht ein Widerspruch? "Nein", findet "World Vision"-Sozialarbeiterin Shiny Matthews, die die Mädchen beim Selbstverteidigungskurs begleitet hat. "Wenn die Mädchen angegriffen werden, müssen sie sich wehren, dann ist Gewalt legitim", sagt die gläubige Christin.

Seit über das einst tabuisierte Thema gesprochen wird, boomt das Geschäft mit der Angst. Die Waffenfabrik Indian Ordnance Factories stellt einen "Damenrevolver" her, der nach der im Bus vergewaltigen Studentin benannt wurde. Die umgerechnet rund 1500 Euro teure Waffe passt laut Hersteller in jede Handtasche und wird wie ein Schmuckstück in einer mit Samt ausgeschlagenen Schatulle angeboten. Auch der Verkauf von Pfefferspray stieg sprunghaft an.

"Erträgliche" häusliche Gewalt

Auch die 14-jährige Tochter von Murghi (Name von der Redaktion geändert) besucht einen Karatekurs. Ihre Mutter hingegen hat erst spät gelernt, sich zu wehren. Zu spät. Mit 16 Jahren wurde sie verheiratet, seitdem zwang ihr Mann sie zum Sex. Doch Murghi brachte "nur" Mädchen zur Welt. In einem Land, in dem noch immer ungeborene Mädchen illegal abgetrieben und weibliche Babys getötet werden, war dies fast ihr Todesurteil. Monatelang sperrte ihr Mann sie in einen Verschlag. Ohne Licht, ohne Toilette, ohne fließendes Wasser. Einmal schlug ihr Mann sie mit dem Kopf gegen die Wand. Als Murghi ins Krankenhaus ging und sagte, dass ihr eigener Mann sie verletzt habe, wollte kein Arzt sie behandeln. Erst als ihr wieder "einfiel", dass sie gestürzt sei, wurde ihr dann doch geholfen.

Seitdem Murghi damit drohte, sich das Leben zu nehmen, was ihrem Mann die Chance genommen hätte, doch noch einen Sohn zu bekommen, schlägt er sie seltener. Was die tapfere Frau derzeit zu Hause erlebt, ist das, was sie "erträgliche Gewalt" nennt. "Erträglich", weil Murghis älteste Tochter sich mittlerweile oft schützend vor ihre Mutter stellt.

Erträglich auch, weil Murghi regelmäßig das "Crisis Intervention Center" besucht. In dem von der Frauenrechtlerin Ranjana Kumari gegründeten Zentrum erhalten misshandelte Frauen unter anderem Rechtsberatung, psychotherapeutische Unterstützung, medizinische Behandlung und einen sicheren Unterschlupf.

Das Wort Opfer fällt hier nur selten. Frauen, die vergewaltigt wurden, heißen hier nicht "Opfer sexueller Gewalt", sondern "Überlebende sexueller Gewalt". Das soll ihre Stärke in den Vordergrund stellen. Auch Murghi nennt sich mittlerweile stolz eine "Überlebende".