Warabi.Akiko legt den Geigerzähler auf den Tisch und blättert in Listen radioaktiver Messdaten. "Unsere Stadt plant einen Schulausflug nach Nikko, aber da sind die Strahlenwerte zu hoch", klagt die junge Mutter, die ihren echten Namen lieber nicht nennen will. 0,202 Mikrosievert pro Stunde seien dort gemessen worden. Das liegt zwar deutlich unter dem Grenzwert von einem Mikrosievert. Bei ihr in Warabi aber liege der Richtwert für Dekontaminierungen bei 0,19 Mikrosievert. "Warum müssen die Kinder ausgerechnet nach Nikko? Es ist schwer, den Beamten das klar zu machen", klagt die Japanerin.

   Doch nicht nur in ihrem Heimatort Warabi, der immerhin 220 Kilometer vom havarierten AKW Fukushima Daiichi entfernt liegt, findet man Akikos Sorge übertrieben. Auch die Regierung und manche Experten halten niedrige Dosen für unbedenklich. Mütter wie Akiko, die dennoch Angst um ihre Kinder haben, können oft mit niemandem darüber reden und müssen sich selbst von Ärzten mitunter anhören, sie seien "hysterisch" und sollten mit ihrer Strahlenphobie aufhören.

Wie gefährlich sind niedrige Dosen wirklich? 
 Im vergangenen November, rund neun Monate nach Beginn der Atomkatastrophe in Fukushima in Folge des Erdbebens und Tsunamis vom 11. März, berief die Regierung ein Expertengremium ein. Nach nur vier Wochen kam es zu dem Schluss, dass das Gesundheitsrisiko durch eine Strahlenbelastung von 20 Millisievert im Jahr - dem Grenzwert für Evakuierungen - "niedriger ist als andere Krebsursachen" wie etwa Rauchen. Doch derartige Vergleiche können viele Japaner nicht überzeugen. Wie gefährlich sind niedrige Dosen wirklich?

   Unter Wissenschaftern ist diese Frage umstritten. In Japan laufen deswegen eine Reihe von Untersuchungen, auch, um die Bevölkerung zu beruhigen. So führt die Präfektur Fukushima seit Ende Juni 2011 eine Befragung unter allen seinen zwei Millionen Bürgern durch, um herauszufinden, welcher Strahlung sie ausgesetzt waren. Sie werden befragt, wo sie am 11. März und an den folgenden Tagen zu welcher Uhrzeit waren und auch, was sie in den ersten zwei Wochen gegessen haben. Die Daten werden dann mit der Verbreitung der radioaktiven Wolke abgeglichen und so die Strahlendosis nachträglich berechnet.

Untersuchungen laufen
Doch haben nicht nur viele Menschen vergessen, was sie in den dramatischen Tagen nach "3/11" genau gemacht hatten. Auch schlägt dem Leiter der Untersuchung, Shunichi Yamashita, der an Studien über die Überlebenden des Atombombenabwurfs auf Nagasaki mitwirkte und die Folgen von Tschernobyl mit untersuchte, Widerstand entgegen. Er war durch anfangs abwiegelnde Äußerungen zur Reizfigur geworden. Bis Ende Jänner hatte nur ein Bruchteil der befragten Bürger in Fukushima ihren Fragebogen abgegeben. Yamashita behauptete unter anderem, es gebe für Jahresdosen von unter 100 Millisievert - normalerweise der Grenzwert für AKW-Arbeiter - keine Beweise für erhöhte Krebsraten.

   Nach der kürzlich vorgelegten Auswertung von Befragungen von rund 10.500 Menschen waren laut der Zeitung "Asahi Shimbun" - abgesehen von rund 720 Atomarbeitern, für die andere Bedingungen gelten - 95 Prozent der restlichen Bürger über vier Monate hinweg einer Strahlenbelastung von unter 5 Millisievert ausgesetzt gewesen. Zudem wollen Yamashita und seine Kollegen die Schilddrüsen sämtlicher Kinder unter 18 Jahren in Fukushima mit Ultraschallgeräten untersuchen, insgesamt 360.000 Kinder.

Ganzkörperzähler und Urinproben
Bis Ende Jänner wurden japanischen Medien zufolge zunächst rund 3.800 dieser Kinder untersucht, hauptsächlich aus Regionen mit hohen Strahlenwerten. Da es mindestens vier Jahre nach der Strahlenbelastung dauere, bis sich Schilddrüsenkrebs bilde, diene die Untersuchung zunächst nur dazu, den momentanen Stand festzustellen.

   Daneben laufen auch Untersuchungen der inneren Strahlenbelastung mit Hilfe von Ganzkörperzählern (Whole Body Counter, WBC) und Urinproben. Dabei sind zuerst die Bewohner der Evakuierungszonen sowie anderer Orten mit hohen Strahlenwerten an der Reihe. Die Präfektur Fukushima verfügt laut japanischen Medien jedoch bisher nur über zwei solcher WBC und organisiert daher Busse für die Bewohner von Evakuierungszonen, damit sie in die nahe Provinz Ibaraki fahren können, wo es weitere solcher Messgeräte gebe. Damit könnten Spuren von radioaktivem Cäsium 134 und 137 festgestellt werden, allerdings kein Strontium, das Experten auch als "Knochenkiller" bezeichnen.

Misstrauen und Verunsicherung
Bei den bis Anfang Februar untersuchten 20.000 Menschen sei jedoch keine innere Strahlenbelastung festgestellt worden, bei der ein "unmittelbares Gesundheitsrisiko" bestehe, hieß es. Dennoch sind viele Menschen verunsichert und misstrauen Vertretern der Regierung wie dem damaligen Sprecher Yukio Edano, der nach dem Atomunfall in Fukushima behauptete, niedrige Strahlendosen hätten keinen unmittelbaren Einfluss auf die Gesundheit. "Ich hatte absolut keine Ahnung, was der damit meinte", klagt Mariko. Die Japanerin lebt wie ihre Freundin Akiko rund 220 Kilometer von der Atomruine entfernt.

   Sie achtet seit Beginn der Katastrophe äußerst akribisch darauf, dass ihre zehnjährige Tochter sichere Lebensmittel zu essen bekommt. Dennoch ließ sie vorsichtshalber im Juli vergangenen Jahres Urin ihrer Tochter untersuchen, auf eigene Kosten - und war geschockt, als das Ergebnis Spuren von Cäsium aufzeigte. Zwar liegt die Dosis weit unter den Grenzwerten der Regierung. Dennoch haben Mariko und ihre Freundin Angst. "Ich glaube nicht, was die Regierung und Medien sagen", erzählt die Mutter. Sie hat sich jetzt mit anderen zu einer Selbsthilfegruppe zusammengeschlossen.

     Wenn schon sie, die weiter vom AKW entfernt leben, Angst haben, kann man nur erahnen, wie sich Japaner fühlen müssen, die viel näher an der Atomruine leben. Daher will die Regierung auch die seelischen Folgen der Katastrophe untersuchen. Aus Tschernobyl weiß man, dass die psychischen Schäden enorm sind.