Tokio/Warschau. Wie sehr Japan von Energie abhängig ist, merkt selbst der Erstbesucher rasch. Wie gigantische Spinnennetze überspannen Stromleitungen die Straßenzüge, an so gut wie jeder Ecke finden sich bunt blinkende Automaten, an denen man neben gekühlten Getränken und Fertiggerichten sogar auch Unterwäsche bekommt.
Bis zum Jahr 2011 hatte Japan seinen gewaltigen Energiehunger zu einem wesentlichen Teil durch Atomstrom gedeckt, die 50 Reaktoren im Land deckten knapp ein Drittel des Bedarfs. Doch mit der Katastrophe im AKW Fukushima zerbrach in Japan auch der Mythos von der sicheren Atomkraft, der die Energiepolitik in den vergangenen Jahren entscheidend geprägt hatte. Ein Kernkraftwerk nach dem anderen wurde zu Sicherheitsüberprüfungen heruntergefahren, seit September 2013 hängt kein einziger Reaktor mehr am Netz.
Die sich seit der Fukushima-Katastrophe auftuende Lücke in der Energieversorgung füllte Japan mit fossilen Brennstoffen. Kohle, Erdöl und Flüssiggas wurden im großen Stil importiert. Neben der Reaktivierung eingemotteter Wärmekraftwerke wurden in den vergangenen Monaten auch zahlreiche neue Anlagen konzessioniert. Bis 2014 sollen 14 Kohle- und Gaskraftwerke ans Netz gehen, mit deren Hilfe Japan auch die teuren Ölimporte reduzieren will. Diese hatten die einst vorbildliche Handelsbilanz ins Minus rutschen lassen.
Doch während sich eine Bilanz durch die neuen Kraftwerke wohl verbessern wird, bricht eine andere dramatisch ein. Das bisherige Ziel, die Treibhausgasemissionen bis 2020 um 25 Prozent unter das Niveau des Jahres 1990 zu drücken, sei angesichts der abgeschalteten Atomkraftwerke "nicht realisierbar" und "völlig gegenstandslos", erklärte Regierungssprecher Yoshihide Suga am Freitag. Die neue Richtmarke heißt nun: minus 3,8 Prozent gegenüber 2005. Doch was auf den ersten Blick ebenfalls nach einer Senkung aussieht, ist in Wahrheit eine Erhöhung. Denn folgt man dieser Zielvorgabe, dann würden die CO2-Emissionen gegenüber 1990 um drei Prozent steigen.
"Ein Wettlauf nach unten"
Mit seiner radikalen Kehrtwende platzte Japan, das zu den wichtigsten Signatarstaaten des Kyoto-Protokolls gehörte und jahrelang Vorreiter in Sachen Klimaschutz war, mitten in die Verhandlungen des UN-Klimagipfels im polnischen Warschau. Und dort geht vor allem die Angst um, dass das japanische Beispiel Schule machen könnte. "Der japanische Vorstoß könnte verheerende Auswirkungen haben", sagt Naoyuki Yamagishi vom WWF Japan. "Denn dadurch könnte der derzeit schon stattfindende Wettlauf der Industriestaaten um die niedrigsten Emissionsreduktionsziele noch wesentlich beschleunigt werden." Yamagishis Sorge scheint nicht unbegründet. Erst vor wenigen Tagen hatte der neue australische Premierminister Tony Abbott angekündigt, die Klimaschutzambitionen seines Landes einfrieren zu wollen. Die linke Vorgängerregierung hatte noch eine Anhebung der Emissionsreduktionsziele um 10 bis 20 Prozentpunkte geplant.
Sorge bereitet den Umweltschützern allerdings nicht nur die Signalwirkung, die von der japanischen Kehrtwende ausgeht. Sie fürchten auch, dass Ministerpräsident Shinzo Abe die kassierten Klimaziele dazu benützen könnte, die Renaissance der Atomenergie in seinem Land zu forcieren.
Denn anders als sein Amtsvorgänger Yoshihide Noda hält Abe wenig bis gar nichts von den immer wieder diskutierten mittelfristigen Atom-Ausstiegsplänen. Wenn es nach dem Premierminister geht, könnten trotz der nach wie vor großen Ablehnung in der Bevölkerung bereits im nächsten Jahr die ersten Reaktoren wieder ans Netz gehen. Dass es ohne die Atomkraftwerke kein CO2-Einsparungspotenzial gibt, wird von Energieexperten allerdings bestritten. Nach Ansicht des Think Tanks Climate Analytics könnte Japan selbst mit dem gegenwärtige, stark auf fossilen Brennstoff basierenden Energiemix 17 bis 18 Prozent zwischen 2005 und 2020 einsparen.