Wien/Fukushima/Tschernobyl. Die größten Atomkatastrophen der Geschichte - Tschernobyl und Fukushima - sind in ihren Auswirkungen nicht vergleichbar. Die freigesetzte Strahlungsmenge betrug in Japan im Jahr 2011 ein Zehntel der Menge nach dem Unglück in der Ukraine vom April 1986. Das erklärte am Mittwoch der österreichische Strahlenökologie-Experte Georg Steinhauser, der derzeit an der Colorado State University arbeitet.
Steinhauser hat zum Thema der Katastrophe von Fukushima bereits sieben wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht. Er ist Mitglied des Strahlenschutzbeirates des österreichischen Gesundheitsministeriums und hat den Unglücksort mehrfach zur wissenschaftlichen Arbeit besucht. Den Vortrag hielt er Mittwochnachmittag im Gesundheitsministerium.
"Xenon-Vergiftung"
Völlig unterschiedlich waren bereits die Ursachen der beiden Katastrophen, so der Experte. In Tschernobyl führte am 26. April 1986 ein völlig fehl gelaufenes Experiment zur Notfall-Stromversorgung durch "Xenon-Vergiftung" des Reaktors zu einem explosionsartigen Anstieg der Kernspaltungsprozesse. Steinhauser: "Die Folgen waren desaströs. Der Reaktor explodierte mit der Wucht der Detonation von 200 Tonnen TNT. (...) Die freigesetzte Strahlenmenge entsprach 5.300 Penta-Becquerel."
Ganz anders in Fukushima am Nachmittag des 11. März 2011. Das schwerste bis dahin in Japan registrierte Erdbeben mit der Stärke 9 auf der Richter-Skala führte zu einem Tsunami. Der Experte: "Der Tsunami forderte 20.000 Tote. Er drang zum Teil bis zu zehn Kilometer ins Landesinnere ein."
Die Atomkatastrophe in dem Tepco-Kraftwerk wurde erst durch die Überflutung des Schutzwalls zum Meer hin und durch die Zerstörung der Diesel-Notgeneratoren für die Kühlung ausgelöst. Steinhauser: "Bei dem Erdbeben waren bereits die Reaktoren eins bis drei bei Registrierung der ersten Druckwellen heruntergefahren worden." Doch trotz der Leistungsdrosselung (binnen kürzester Zeit auf sieben Prozent, nach einer Stunde wären zwei Prozent erreicht worden; Anm.) hinkte die Kühlung durch Ausfall der Not-Stromversorgung dem Bedarf nach. Es kam zu keiner Abfuhr von Wärme aus dem Reaktorgebäude mehr. Die Folge waren die verheerenden Wasserstoff-Explosionen. Kernschmelze trat ein.
Freilich, im Vergleich zu Tschernobyl war in Japan die freigesetzte Strahlenmenge relativ gering. Steinhauser: "Es wurde mit 520 Penta-Becquerel etwa ein Zehntel der Strahlungsmenge von Tschernobyl freigesetzt." In der Folge von Tschernobyl wurden 29.400 Quadratkilometer mit mehr als 185 Kilo-Becquerel pro Quadratmeter hoch belastet, nach dem Unglück von Fukushima war das auf einer Fläche von 1.700 Quadratkilometern der Fall.
Laut dem Experten war auch die Wettersituation in Japan, was die auf Erdbeben und Tsunami folgende Atomkatastrophe betraf, relativ günstig: "80 Prozent der freigesetzten Radionuklide wurden auf das Meer geweht." Unter Einrechnung einer im Vergleich Tschernobyl um den Faktor zehn geringeren Freisetzung strahlender Substanzen sei die Belastung nur bei zwei Prozent jener nach dem Unfall in der Ukraine gewesen. Weltweit sei allein mit den Kernwaffenversuchen der 1960er-Jahre 120 Mal mehr Cäsium-137 freigesetzt worden als durch das Unglück in Japan, im Pazifik habe man 20 Becquerel pro Kubikmeter Wasser gemessen, etwa die Hälfte des Wertes im Schwarzen Meer. In zehn Jahren werde man im Pazifischen Ozean kaum mehr einen Effekt des Unglücks von Fukushima registrieren können.
Katastrophe durch psychische Konsequenzen
Bei dem Unglück in Tschernobyl starben im April 1986 28 Menschen, weitere 19 kamen direkt aufgrund des Katastrophenfalles zwischen 1987 und 2004 ums Leben. In den am ärgsten betroffenen Regionen kam es zu rund 7.000 Schilddrüsenkarzinom-Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen mit 15 Todesfällen, so der Strahlenökologie-Experte Georg Steinhauser am Mittwoch in Wien. Weiters gehe man als Folge von Tschernobyl von 14.000 bis 17.000 Leukämiefällen aus. Die Atomkatastrophe von Fukushima forderte akut keine Todesopfer. Die Schätzungen für zusätzliche Krebsfälle würden auf etwa 130 lauten, erklärte der Fachmann.
Auch hier seien die Folgen der beiden Katastrophen kaum vergleichbar: "Die zwei Unfälle zu vergleichen, ist fast wie ein Vergleich von Birnen und Äpfeln." Katastrophal aber seien die Angst, das Los der mehr als 100.000 Menschen, die rund um Fukushima Heimat, Haus, Habe und Existenz verloren hätten: "Das ist das wahre Disaster. Nur fünf Prozent der in Notquartieren Untergebrachten, wollen sofort wieder zurück. Ein Viertel bis ein Drittel sagen, sie wollen auf keinen Fall mehr zurück in ihre Heimatorte. Ein Drittel der unter 29-Jährigen sind arbeitslos. Unter den 50- bis 59-Jährigen haben 41 Prozent den Job verloren", erläuterte der Experte. Die Strahlenangst, das psychische und soziale Trauma seien - mit der Stigmatisierung - die größte Katastrophe.