Fukushima. Jetzt würde der beste Teil ihres Lebens beginnen, dachte Frau Yamamoto. 40 Jahre lang hatte sie im Büro des nur wenige Kilometer entfernten Atomkraftwerks Fukushima Daiichi gearbeitet, das ihrer Heimat, der Kleinstadt Okuma, einen gewissen Wohlstand gebracht hatte. Im soeben angetretenen Ruhestand würde es nun endlich genug Zeit für ihre zwei Enkel - der eine ein paar Monate alt, der andere eineinhalb Jahre - geben. Und natürlich für die Rosen, von denen Yamamoto mehr als 200 verschiedene Sorten besaß.

Wenige Minuten genügten, um ihr Leben auf den Kopf zu stellen. Am 11. März 2011 erschütterte eines der weltweit schwersten Erdbeben den Osten Japans und löste einen verheerenden Tsunami aus. Die teils haushohen Wellen rissen rund 18.500 Menschen in den Tod und zerstörten Küstengebiete entlang von 400 Kilometern, zum Teil bis zu zehn Kilometer landeinwärts. Auch Yamamotos früherer Arbeitsplatz wurde überschwemmt. Mit dem Strom fiel im AKW das Kühlsystem aus, es kam zur Kernschmelze und zu Wasserstoffexplosionen in drei der vier Reaktoren - und damit zum schlimmsten Atomunglück seit Tschernobyl 1986. Etwa die Hälfte der Präfektur Fukushima sowie Teile der umliegender Präfekturen wurden teils stark verstrahlt, darunter Yamamotos frühere Heimat Okuma, die nun in der Sperrzone liegt.

Licht und Schatten

40 Jahre soll die Stilllegung der zerstörten Anlage dauern und Milliarden Euro kosten, schätzt die Betreiberfirma Tokyo Electric Power (Tepco). Täglich arbeiten dort bis zu 7000 Arbeiter unter schwersten Bedingungen. Eines der größten Probleme ist das eindringende Grund- und Regenwasser, das sich mit radioaktiv belastetem Kühlwasser mischt. Mehr als tausend Tanks sind mit über 200.000 Tonnen kontaminiertem Wasser gefüllt, Tendenz steigend. Weder die Reinigung des Wassers noch der Bau einer 1,4 Kilometer langen "Eismauer" konnte die Lage bisher entschärfen. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) hat Tepco daher bereits nahegelegt, schwach verstrahltes Wasser in den Pazifik zu leiten, wie es in vielen AKW rund um die Welt passiere. Dagegen wehren sich allerdings die lokalen Fischer, die um ihre Existenzgrundlage fürchten.

Immerhin: Mit der riskanten, aber aber erfolgreichen Entnahme verbrauchter Brennstäbe aus dem Abklingbecken von Reaktor vier sei ein "Meilenstein" des "sehr komplexen" Rückbaus erreicht, lobten IAEO-Vertreter. Dank der Dekontaminierungsmaßnahmen können die Arbeiter nun teils ohne oder mit weniger Schutzkleidung auf das Gelände. Manche Areale bleiben jedoch weiterhin nur Robotern zugänglich. Kopfzerbrechen bereitet Experten aber nach wie vor die Frage nach dem Verbleib und Zustand der Brennstäbe in den Reaktoren eins bis drei. Tepco hofft mit Hilfe der Myonen-Tomographie, mit der man ähnlich wie bei einem Röntgenbild berührungslos ein Gebäude durchleuchten können soll, herauszufinden, wo sie sind.

Doch nicht nur die unmittelbare Stilllegung der AKW-Ruine ist ein Wechselspiel aus Hoffnung machenden Lichtblicken und quälender Stagnation. Denn während die Betroffenen in den Tsunami-Gebieten Schritt für Schritt den Wiederaufbau vorantreiben konnten, hängen in Fukushima noch immer knapp 120.000 Zwangsevakuierte in einer Warteschleife. Manche ihrer Nachbarn hätten inzwischen anderswo neu angefangen, erzählt Yamamoto, aber das Heimweh nach Okuma bleibe bei allen bis zum Tod. Was die Rückkehr verzögert, ist der langsame Fortschritt bei der Dekontaminierung der betroffenen Dörfer. Allerdings will auch nur noch ein Fünftel der Evakuierten wieder zurück, vor allem Senioren. Sie möchten ihren Lebensabend im gewohnten Umfeld verbringen.

Um eindeutige Aussagen über eine mögliche Rückkehr windet sich die Regierung herum. Doch es gibt zahlreiche Indizien, die darauf schließen lassen, dass es für viele keine Heimkehr geben wird. Unter anderem hat die Regierung drei Zonen um das AKW eingerichtet: "Rückkehr schwierig" (jährliche Strahlung über 50 Millisievert), was so viel bedeutet wie unmöglich, "Wohnen nicht erlaubt" (20 bis 50 Millisievert) und Zonen, die dafür vorbereitet werden, dass der Evakuierungsbefehl aufgehoben wird (bis 20 Millisievert). Zum Vergleich: Normal sind zwischen 2 und 5 Millisievert pro Jahr. Bei Personen, die aufgrund ihrer Tätigkeit im AKW-, Flug-, oder Medizinbereich erhöhter Strahlung ausgesetzt sind, liegt das Limit bei 400 Millisievert im gesamten Berufsleben.

Unklare Langzeitfolgen

Kaum eindeutige Aussagen gibt es bisher auch über die gesundheitlichen Folgeschäden. So haben Screenings durch die Präfektur Fukushima und lokale Universitäten ergeben, dass die innere Strahlenexposition bei fast 250.000 Untersuchten unter einem Millisievert pro Jahr lag; bei wenigen Dutzend nur knapp darüber. Auch die rund 100 Fälle von Schilddrüsenkrebs, die bei fast 400.000 untersuchten Kindern auftraten, seien relativ normal. Atomkritische Ärzte warnen indes vor tausenden zusätzlichen Todesfällen durch Krebs. Fachärzte sagen, das wirkliche Ausmaß werde erst zehn Jahre danach erkennbar sein. Leichter messbar und womöglich schwerwiegender, so sagen manche Ärzte, sei die Auswirkung der Evakuierung auf die Psyche. Viele leiden wie die Seniorin Yamamoto an Schlaflosigkeit und Depressionen. Auch das entbehrungsreiche Leben in den Behelfsunterkünften fordert seinen Tribut. Laut der Tageszeitung "Tokyo Shimbun" gab es im vergangenen Jahr 1232 Todesfälle, die in Verbindung mit dem Reaktorunglück stehen.

Yamamoto und andere frühere Bewohner von Okuma bedrückt aber auch, dass seit kurzem in ihrem Städtchen ein Zwischenlager für radioaktiv belastetes Material gebaut wird. "Das wird ein Endlager", befürchtet Yamamoto. Sie ist wütend auf Tepco, fühlt sich hintergangen. "Sie haben immer gesagt, dass das AKW sicher ist." Sie lehnt inzwischen die Atomkraft ab, "das ist nichts für Menschen". Zwei Drittel der Japaner denken ähnlich. Trotzdem steht ein Ausstieg aus der Kernkraft nicht zur Debatte. Stattdessen will der Staat alsbald einen Teil der verbliebenen 48 kommerziellen Reaktoren wieder ans Netz bringen. Sie sind seit September 2013 außer Betrieb. Die Regulierungsbehörde hat bereits grünes Licht für zwei Anlagen in Kagoshima und Fukui gegeben. Schon im Juni könnten sie wieder hochgefahren werden.