Tokio. Vor knapp 900 Tagen hat sich der bisher größte Atom-Unfall in der Geschichte der Menschheit ereignet. Nach einem Tsunami, ausgelöst von einem gigantischen Erdbeben, explodierten im japanischen AKW Fukushima drei Reaktorblöcke. Bis heute, rund zweieinhalb Jahre nach der Katastrophe am 11. März 2011, reißen die Horrormeldungen nicht ab. Immer wieder werden neue Details des Super-GAUs bekannt - und Experten warnen bereits, dass das Schlimmste noch bevorsteht.
"Es ist eine Katastrophe ohne Ende", sagt Reinhard Uhrig von Global 2000. Der Atom-Fachmann, der selbst schon in Fukushima war, dort gemessen und einen Einblick in die Informationspolitik des AKW-Betreibers Tepco erhalten hat, kann und will nicht aufhören zu warnen. Was ihn am meisten ängstigt, ist die Tatsache, dass es sich um eine "verdrängte Katastrophe" handelt. Sprich: Dass am Gelände der Atomruine Dinge lagern, die nicht nur für Japan eine Gefahr darstellen, würden sie außer Kontrolle geraten. Und dass sie das tun könnten, daran hegt Uhrig keinen Zweifel. Denn Tepco sei "total überfordert", niemand habe auch nur den Ansatz einer Idee, wie man die weltweit größte radioaktive Zeitbombe entschärften könnte.
Der Albtraum in Zahlen: Am Gelände lagern derzeit 10.833 Brennelemente, jedes rund 300 Kilogramm schwer. Allein in den Reaktoren 1 bis 3 fressen sich 210 Tonnen, tausende Grad heißes Corium (geschmolzene Brennelemente) durch den Beton. Schätzungen zufolge laufen täglich 300.000 Liter radioaktiv verseuchtes Wasser ins Meer - seit 11. März 2011 ergibt das eine "Zwischensumme" von fast 270 Millionen Liter. 2.000 Aufräumarbeiter wurden verstrahlt, 160.000 Menschen evakuiert, sieben Hektar Meeresboden einfach zubetoniert.
Lecke Tanks, zerfressene Leitungen, behelfsmäßig abgedeckte Kühlbecken und hunderte Tonnen radioaktive Lava, der sich weder Mensch noch Maschine nähern können - die Zukunft von Fukushima sieht düster aus. Die Sperrzone ist 1.100 Quadratkilometer groß, jene Fläche, in der mehr als 30 Kilo-Bequerel pro Quadratmeter (kBq/m2) gemessen wurden, ist achtmal größer. "Man trägt fünf Zentimeter Erde ab und redet den Leuten ein, dass ein bisschen putzen und schrubben ausreicht, damit wieder alles in Ordnung ist", kann es Uhrig nicht fassen.
Neue Gefahr
Doch was den Atom-Experten wirklich beunruhigt, ist der kommende November. Da steht nämlich der Abtransport von 1.535 Brennelementen an, die in den Abklingbecken von Reaktorblock 4 lagern. "Wenn da etwas passiert, wenn es da zu einer Kettenreaktion kommt, weil Stäbe gegeneinander krachen, dann - und darüber gibt es schon Schätzungen - kann man weite Teile Japans für immer absiedeln. Ich sage nur so viel: Im November müssen wir alle den Atem anhalten", so Uhrig.
Bis dato wurden in der Region Fukushima 210.000 Kinder und Jugendliche untersucht. In 18 Fällen wurde Schilddrüsenkrebs diagnostiziert und 25 Verdachtsfälle dokumentiert. Wie viele Erkrankungen es tatsächlich gibt, wird allerdings erst in fünf bis zehn Jahren zu sagen sein. Der Super-GAU hat schon jetzt 1.632 Todesopfer gefordert, allerdings nicht durch Strahlung, sondern aufgrund von mangelhafter medizinischer Betreuung, Erschöpfung oder Entwurzelung - was sich vor allem bei älteren Menschen bemerkbar machte.
Auch Umweltminister Nikolaus Berlakovich appellierte ans kollektive Bewusstsein: "Es darf kein Fukushima-Effekt einsetzen. Solche Ereignisse müssen uns immer daran erinnern, wie gefährlich Atomenergie ist. Menschenleben dürfen nicht dem Energiehunger zum Opfer fallen." Tepco habe jedenfalls "zu zögerlich, zu spät und auch unvollständig" Stellung bezogen, zeigte sich Berlakovich enttäuscht: "Es hat sich gezeigt, dass die Informationspolitik vom Betreiberunternehmen an die Behörden völlig unzureichend war."
Was den Japanern noch alles droht, ließ sich aus einer aktuellen Meldung der französischen Presseagentur AFP herauslesen. Dort hieß es am Mittwoch: "Der Fukushima-Betreiber Tepco hatte am Dienstag bekannt gegeben, dass in dem havarierten Kraftwerk das bisher größte radioaktive Leck seit der Atomkatastrophe 2011 entdeckt wurde. Rund 300 Tonnen verseuchtes Wasser seien womöglich aus einem der Auffangtanks ausgetreten. Nahe der Tanks seien an Lacken Strahlungswerte in Höhe von 100 Millisievert pro Stunde gemessen worden, was Wissenschaftern zufolge für Menschen gesundheitsgefährdend ist." Fortsetzung folgt - mit Sicherheit.