Zum Hauptinhalt springen

Der Denkmuskel

Von Edwin Baumgartner

Gehirn
© Illustration: Adobe Stock/Anita Ponne

Am 22. Juli ist der Tag des Gehirns - das Organ hat einen wesentlichen Beitrag zum Schauer-Genre geleistet.


Die Szene verursacht sogar in der Erinnerung noch Ekel: Hannibal Lecter, Psychiater mit ausgeprägtem Instinkt für eigenwilligen Spaß und Feinschmecker mit einem Faible für das Ausgefallene, lässt den dummdreisten Widerling Paul Krendler Teile von dessen eigenem Gehirn essen. Am Schluss, im Flugzeug, will Lecter sich selbst an der Spezialität delektieren - und den daran sehr interessierten Buben am Nebensitz lässt er obendrein davon kosten. Fehlt eigentlich nur noch nur das obligate "lecker" deutscher Kochsendungen.

Der "Tag des Gehirns" am Sonntag lädt ein, dem biologischen Eiweißcomputer einen Moment lang Aufmerksamkeit zu schenken. Natürlich könnte man jetzt biologische Fakten aufzählen, die gibt es ja zuhauf. Das liest sich dann, Wikipedia sei Dank, so: "Das Gehirn, anatomisch Encephalon genannt (von altgriechisch en, deutsch ‚in‘ und kephale ‚Kopf‘), liegt geschützt in der Schädelhöhle, wird von Hirnhäuten umhüllt und besteht hauptsächlich aus Nervengewebe. In Höhe des Foramen magnum geht es in das Rückenmark über, beide zusammen bilden das Zentralnervensystem." Dann könnte man noch anfügen, dass die Länge aller Nervenbahnen des Gehirns eines erwachsenen Menschen rund 5,8 Millionen Kilometer beträgt, was dem 145-fachen Erdumfang entspricht. Vielleicht gibt es ja jemanden, der sich darunter jetzt ganz konkret eine Ausdehnung vorstellen kann.

Das Gehirn und die Angst

Und dann könnte man noch erwähnen, dass, wissenschaftlich nachgewiesen, die Gehirne von Männern und Frauen in der Größe und Aufbau unterschiedlich sind. Das Gehirn eines erwachsenen Mannes wiegt etwa 1400 Gramm - wobei das männliche Gehirn durchschnittlich um 100 Gramm schwerer ist als das weibliche. Ein Faktum - das nur lehrt: Nicht auf die Größe kommt es an, sondern darauf, was man damit macht.

Aber das sind alles Details, die gerne den Wissenschaftern und Medizinern überlassen seien. Als Schriftsteller bringt Ambrose Bierce in seinem "Wörterbuch des Teufels" die Sache in diese Kurzform: "Gehirn: ein Organ, mit dem wir denken, dass wir denken."

Zumal ja das Gehirn, wie wir spätestens dank des eingangs erwähnten Hannibal Lecter wissen, auch außerhalb der Wissenschaft eine große Rolle spielt. Ja, gewiss auch in der Kulinarik - dort in der Wiener Küche etwa als Kalbshirn mit Ei oder Kalbshirn gebacken. Ja, wirklich, es gibt Menschen, die das gerne essen.

Vor allem aber spielt das Gehirn eine Hauptrolle, wenn es um Gruseleien geht. Das fängt mit dem Gehirn als sozusagen ausführendem Organ an. Der Joseph LeDoux (jetzt kommt doch noch ein Hauch Wissenschaft in die Sache hinein), erklärt, was das Gehirn tut, werden ihm Angstmacher vorgesetzt. Angst, so der US-amerikanische Neurowissenschafter, sei nämlich beim Menschen mehr als nur das Empfinden von Bedrohung. Die Chemie der Angst funktioniere folgendermaßen: Die Erwartung, dass uns Schlimmes zustoßen kann, setze eine chemische Kaskade in Gang. Vor allem über den Botenstoff Glutamat würden Alarmsignale in andere Hirnteile wie den Hypothalamus und dann in den Körper gestreut, führte LeDoux in einem Gespräch mit der "Berliner Morgenpost" aus. Das Nebennierenmark stößt auf Befehl des Gehirns große Mengen des aufputschenden Stresshormons Adrenalin aus, der Blutzuckerspiegel steigt, das Herz schlägt schneller und die Handinnenflächen werden feucht. Und warum sehen manche Menschen gar so gerne Horrorfilme oder lesen mit Leidenschaft Gruselgeschichten? - Wegen des Glücksgefühls nachher. Bleibt nämlich das Schlimmste aus, strömt das beruhigende Wohlfühlhormon Endorphin durch den Körper. Dieser Hormonmix ist für viele Menschen unwiderstehlich - was wiederum jenen Drehbuchschreibern und Horrorgeschichtenautoren zu denken geben sollte, die sich auf hoffnungslose Enden kaprizieren. Bei den Geschichten von H. P. Lovecraft mag das funktionieren, aber, Hand aufs Herz: Wer ist schon ein Lovecraft angesichts dessen, dass ja die meisten nicht einmal ein Stephen King sind?

Eine andere Sache ist das Gehirn quasi als Gruselobjekt. Ist es vom Kopf getrennt, erreicht es auf der Igitt-Skala von eins bis zehn (wobei eins der Anblick einer sommerlichen Gelse ist und zehn der des gegen das Auge geführten Messers im Film "Ein andalusischer Hund") so ungefähr Grad elf. Dementsprechend die Hervorbringungen des Genres an der Grenze von Horror und Science Fiction: In "Donovans Brain", 1953 von Felix E. Feist nach einer Geschichte Curt Siodmaks gedreht, dürfte der Auslöser gewesen sein: "The Brain From The Planet Arous" (1957), "Fiend Without A Face" (1958) - zugegeben, Meisterwerke des Genres sind die beiden nur gemessen an "They Saved Hitler’s Brain" (1968). In "Brain Eaters" holt sich Leonard "Spock" Nimoy eine erste Hirn-Erfahrung, die er dann später brauchen kann in der Star-Trek-Folge "Spocks Gehirn", in der dem Vukanier das Gehirn gestohlen wird.

Um diesen externen Inhalt zu verwenden, musst du Tracking Cookies erlauben.

Das Gehirn und der Marsch

Übrigens hat Jahrzehnte zuvor Frankenstein seinem Monster ein Verbrecher-Gehirn eingepflanzt, allerdings nur (erstmals) 1931 in der Verfilmung von James Whale. Im Roman von Mary Shelley wird die Herkunft des Gehirns nicht weiter ausgeführt. Und Felix van Reijn destilliert aus Gehirnen Erfahrungen und Wissen und pflanzt es sich selbst ein - und zwar in der ersten Folge von Rainer Erlers Fernsehserie "Das blaue Palais", gegen die sich "Akte X" ausnimmt wie eine sanfte Neusiedlersee-Brise gegen einen Pazifik-Taifun.

Selbstverständlich gieren auch die meisten Zombies nach einer Gehirnmahlzeit. Mag sein, dass da ein bisschen was durcheinander geworfen wird. Kannibalismus war nämlich, außer bei Dr.Lecter, nie eine Frage der Kulinarik, sondern immer eine der Ritualmagie: Man wollte Kraft und Wesen des Toten in sich aufnehmen - in höchster Transzendenz entspricht das dem "dies ist mein Leib - dies ist mein Blut" der Christen. Wenn es die Zombies, also die lebendig gewordenen Toten, nach den Gehirnen der Lebenden verlangt, so deshalb, weil das Gehirn als erstes verwest. Ein Zombie will sich nur zurückholen, was ihm die Würmer genommen haben. Weshalb Zombies freilich ausgerechnet durch Kopfschüsse getötet werden können, wenn doch im Kopf nichts ist, was beschädigt werden kann, macht den größten Teil der Zombiegruseleien zu ziemlich hirnlosen Angelegenheiten.

Und überhaupt: Ist den Zombies jedes Gehirn recht? Schließlich sagt der irische Schriftsteller George Bernard Shaw: "Ein ungeübtes Gehirn ist schädlicher für die Gesundheit als ein ungeübter Körper." Kämen die Zombies an geübte Gehirne, vielleicht könnten sie dann auch ihren Zeitlupenwackelgang ablegen.

Gleich zackig marschieren brauchen sie deshalb auch wieder nicht, da sei der Physiker aller Physiker vor: "Wenn einer mit Vergnügen zu einer Musik in Reih und Glied marschieren kann, dann hat er sein großes Gehirn nur aus Irrtum bekommen, da für ihn das Rückenmark schon völlig genügen würde", meinte Albert Einstein und erinnerte sich dabei wohl an die von donnernder Marschmusik begleiteten Paraden der Nationalsozialisten.

Ehe man sich freilich in deren moralische Niederungen begibt, schnell etwas Erfreulicheres, nämlich Essen und Gehirn, und zwar nicht in hannibaleskem Sinn. Gut fürs Gehirn sollen Karotten sein, Dinkel, Birnen, Knoblauch, Brokkoli und vor allem Nüsse. Doch das schmackhafteste Dinkel-Knoblauch-Birnen-Müsli ändert nichts daran, dass am allerbesten das Gehirn-Jogging ist, anders gesagt: der Denksport, das Lernen. Das Gehirn will trainiert werden - ganz so, als wäre unser Eiweißcomputer in Wahrheit ein Denkmuskel.