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Einmal durch den Gedächtnisgarten

Von Christoph Rella

Gehirn

Der österreichische Memorier-Weltmeister Lukas Amsüß merkt sich 52 Spielkarten in weniger als 33 Sekunden.


Mürzzuschlag. Wenn Lukas Amsüß in seinem Haus in Mürzzuschlag Gäste empfängt, dann tut er das in der Regel im Garten - also jenem Ort, wo vor rund 20 Jahren seine Karriere als Gedächtnissportler begann. Um sich Inhalte, etwa ein Spielkartendeck, in der richtigen Reihenfolge zu merken, hat er zwischen Eingangstür, Garage, Pool und Gartenlaube eine imaginäre Route angelegt, entlang der er Inhalte "ablegt" und mit einer Geschichte verknüpft. Ein Gespräch über Lernmethoden, Weltmeisterschaften und den Sinn des Auswendiglernens.

"Wiener Zeitung":Mürzzuschlag scheint ja ein gutes Pflaster für Gedächtnissportler zu sein. Neben Ihnen ist auch die Gedächtnisweltmeisterin und österreichische Rekordhalterin Astrid Plessl von hier. Liegt das an der guten Luft?

Lukas Amsüss: Nein, das liegt daran, dass bei uns in der Schule 1999 das Freifach Gedächtnistraining angeboten wurde. Ich habe dann die Astrid auch dafür begeistert, und so haben wir als Erste in Österreich richtig zu trainieren begonnen. Wir waren dann bei den österreichischen Meisterschaften und auch bei den Weltmeisterschaften. 2002 ist uns der Grand-Master-Titel verliehen worden.

Grand Master wird man nur, wenn man konkrete Voraussetzungen erfüllt .. .

Das hat sich im Laufe der Zeit wieder geändert. Damals musste man sich in einer Stunde zehn Decks von Spielkarten in der richtigen Reihenfolge merken, also 520 Karten. Dann 1000 Ziffern in einer Stunde und die Reihenfolge von 52 Karten in weniger als drei Minuten.

Sie waren mit 18 bei der österreichischen Gedächtnisolympiade und haben den zweiten Platz gemacht. War der Ehrgeiz schon von Anfang da, bei Turnieren zu gewinnen?

Nein, eigentlich nicht. Das hat mich auch selbst überrascht, dass das so schnell gegangen ist. Und es ist wirklich erstaunlich. Bei der ersten Meisterschaft habe ich mir, glaube ich, 20 Karten in fünf Minuten gemerkt und binnen drei Jahren ist dann meine persönliche Bestleistung auf 33 Sekunden für alle 52 Karten gestiegen. Und damit bin 2003 in Kuala Lumpur auch Weltmeister geworden.

Die Disziplin, Speedcards genannt, ist Ihre Spezialität. Der Weltrekord liegt mittlerweile bei 15 Sekunden. Wie ist das möglich?

Die grundsätzliche Technik basiert darauf, dass man jede Karte mit einem Bild codiert. Zum Beispiel Karo 5 ist bei mir Kaffee. Alle Karo-Karten beginnen mit K und weil Kaffee ein F in der Mitte hat, ist Karo 5 Kaffee. Wenn man dann eine Karte sieht, muss man das Bild dazu möglichst schnell parat haben und das legt man dann nach der sogenannten Loci-Methode ab.

Wie funktioniert die Loci-Methode?

Die Loci-Methode ist quasi ein Dateisystem im Gehirn mit vorgefertigten Routen, wo man im Geist durch den Garten oder durch das Haus geht, vorgefertigte Stationen aufsucht und dort bestimmte Inhalte ablegt. Also das, was wir vor dem Interview im Garten gemacht haben: Das Eingangstor, die Garage - dort merkt man sich die entworfenen Kartenbilder dazu.

Bei Turnieren gefragt werden aber nicht nur Spielkarten und Zahlen, sondern auch Wörter.

Bei Wörtern ist es so: Wir haben uns vorhin Wörter gemerkt, die man angreifen kann. Bei der WM kommen aber auch Wörter wie "Phantasie" oder "Intelligenz" hinzu. Diese ist nicht angreifbar, aber auch Verben wie "laufen" oder Adjektive - Adjektive sind am schwierigsten. Das kann man sich nicht bildlich vorstellen, da muss man sich etwas überlegen.

Bei den Turnieren werden die Wörter auf Englisch vorgelesen und direkt übersetzt. Da hatten Sie auch schon einmal Probleme ...

Das lag daran, dass die Übersetzung mangelhaft war, aber das war früher, jetzt ist es schon viel professioneller. Damals wurde vom Englischen übersetzt, aber die übersetzten deutschen Wörter hat es gar nicht gegeben.

Also war die Übersetzung einfach schlecht?

Genau. Die größeren Probleme gab es aber beim Chinesisch, weil die Sprache doch anders funktioniert als unsere. Vor allem beim Merken von Namen hat es hier immer Diskussionen gegeben, bei Wörtern nicht. Das waren meistens europäische Namen, aber es wird jetzt geschaut, dass es einen internationalen Mix gibt, was das Ganze aber schwieriger macht.

Wie würden Sie sich den fiktiven Namen Chuao Ping merken?

Chuao? Da würde ich mir einen Hund vorstellen. Und bei Ping einen Tischtennisball. Also einen Hund, der Ping Pong spielt. Man muss immer schauen, dass man irgendeine Assoziation herstellt.

Profitieren Sie eigentlich im Alltag von diesen Memoriertechniken?

Es hat mir natürlich beim Studium geholfen. Es hilft vor allem dann, wenn man sich strukturierte Informationen merken muss - eine gewisse Reihenfolge oder so. Ich habe Jus studiert, für das Lernen von Paragraphen war das natürlich eine Auflage.

Insgesamt scheint das Auswendiglernen von Dingen ja nicht mehr den Stellenwert zu haben wie früher. Was man wissen will, kann man mit dem Smartphone googeln. Finden Sie das bedauerlich, dass sich die Leute weniger merken?

Ja, schon. Wir haben in meiner Kindheit beispielsweise sehr viel Memory gespielt. Und da sind ja die Kleinkinder den Erwachsenen meistens überlegen, weil Kinder noch viel mehr Vorstellungskraft haben als der Erwachsene, der ja viel mehr mit Logik arbeitet. Mein Interesse war aber eher immer in Richtung Zahlen und Rechnen. Das ist meine große Leidenschaft, und ich habe auch 2012 bei der Kopfrechnen-Weltmeisterschaft in der Türkei mitgemacht. Es ist unglaublich, welche Leistungen da gebracht werden. Vor allem die Asiaten haben uns da viel voraus.

Wie muss man sich so ein Turnier vorstellen? Da sitzen die Kandidaten regungslos beim Tisch, memorieren stundenlang ihre Aufgaben. Für Zuschauer ist das nicht gerade spannend.

Es ist schon wie eine Prüfungssituation. Man sitzt konzentriert da, bekommt einen Zettel. Dann erfolgt das Startsignal, alle drehen den Zettel um und fangen an. Es herrscht absolute Stille, es haben auch alle Kopfhörer auf. Zum Zuschauen ist es freilich unspektakulär, aber das kann man auch vom Schach sagen und trotzdem schauen viele gern zu.

Haben Sie sich schon gefragt, was beim Memorieren in Ihrem Gehirn vorgeht?

Ich habe mich viel damit beschäftigt. Ich habe einmal bei einer Studie am Max-Planck-Institut teilgenommen, das war eine Drei-Tages-Studie, wo man permanent verkabelt war - auch im Schlaflabor. Das war eine Vergleichsstudie von Gedächtnissportlern und Studenten, wo man die verschiedensten Aufgaben lösen musste. Interessant war zum Beispiel eine Aufgabe, wo 100 Wörter projiziert wurden und man sich bestimmte Wörter merken und andere wieder sofort vergessen musste. Ich habe zum Beispiel von den vergessenen Wörtern nur noch eines gewusst, die Studenten aber viel mehr. Da sieht man sehr gut, wie effizient die Systeme sind. Man kann sich also auch bewusst etwas nicht merken.

Dabei ist Vergessen-Können ja für unser Gehirn sehr wichtig.

Das ist ein Segen. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass die Zahlen und Wörter irgendwann komplett verschwinden. Man will das ja auch gar nicht im Langzeitgedächtnis behalten.

Welche Dinge erachten Sie persönlich als wert, behalten zu werden?

Was ich mir gerne merke, sind Gedichte - die "Bürgschaft" oder die "Glocke" von Friedrich Schiller sind wunderschön. Gedichte habe ich immer schon in der Freizeit gern auswendig gelernt, weil sie mir gut gefallen und auch eine Botschaft haben.