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Vom Bösen gesteuert

Von Petra Tempfer

Gehirn

Schwerverbrecher-Gehirne funktionieren anders: Hirnscans könnten Einzug in die Gerichtssäle halten.


Wien. Phineas P. Gage war als besonnener, pflichtbewusster und freundlicher Vorarbeiter einer amerikanischen Eisenbahngesellschaft bekannt. Vor mehr als 150 Jahren arbeitete er bei Cavendish im Bundesstaat Vermont im Osten der USA. Bis sein Kopf von einer Eisenstange durchschossen wurde. Bei einer Sprengung bohrte sich der etwa einen Meter lange und drei Zentimeter dicke Metallteil unter den linken Wangenknochen und trat oben am Kopf wieder aus. Die Wunde heilte schnell, nur das linke Auge blieb blind - und dennoch war alles anders als vorher. Gages Persönlichkeit schien durch den Unfall unwiederbringlich zerstört worden zu sein. Aus dem freundlichen Vorarbeiter war ein kindischer, unzuverlässiger Choleriker ohne jede Moralvorstellung geworden.

Die Eisenstange hatte das Frontalhirn zerstört. Heute weiß man, dass Charaktereigenschaften bestimmten Gehirnarealen zuzuordnen sind. Sind diese defekt oder verändert, zeigt sich das im Verhalten. "Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist klar: Unser Gehirn ist ein ganz zentraler Teil von dem, was wir sind", sagt Thomas Klausberger, Leiter der Abteilung für kognitive Neurobiologie am Zentrum für Hirnforschung der MedUni Wien, zur "Wiener Zeitung". Im Gehirn liege daher auch begründet, welche Moralvorstellungen jemand hat - oder eben nicht hat.

Mildernde Urteile vor Gericht

Das Böse wurzelt also im Gehirn. Der Psychologe und Neurowissenschafter Kent Kiehl von der University of Mexico untersucht seit langem Psychopathengehirne. Gehirne von Menschen, die berechnend, gefühlskalt, furchtlos - und das Paradebeispiel für kaltblütige Killer sind. Im Zuge seiner Forschungen stieß er auf mehrere Ursachen. So war das paralimbische System tief im Gehirn, das bei der Vermittlung intensiver Emotionen entscheidend mitwirkt, bei einigen auffallend inaktiv. Andere wiesen das Urbach-Wiethe-Syndrom auf: eine seltene Erbkrankheit, bei der unter anderem die Amygdala verkalkt, die nicht ohne Grund das "Gefühlszentrum" genannt wird. Und schließlich können Kiehl zufolge auch Schäden im Frontalhirn mit Persönlichkeitsveränderungen wie Triebenthemmung einhergehen - jene Region, die beim Eisenbahner Gage von der Stange durchbohrt worden war.

Vom Verlust jeglicher Werte ist es mitunter nur ein kleiner Schritt in die Kriminalität. Dass ein "Fehler" im Gehirn für dieses Fehlverhalten verantwortlich sein kann, hat sogar schon zu milderen Urteilen vor Gericht geführt. In Italien etwa wurde 2011 eine geständige Mörderin, die ihre Schwester getötet hatte, zu 20 Jahren statt lebenslanger Haft verurteilt. Ein vom Verteidiger eingebrachter Hirnscan hatte nämlich gezeigt, dass ihr Gehirn ein geringeres Volumen hatte. Zudem wies sie eine Mutation im MAO-A-Gen auf, das für die Produktion gewisser Enzyme verantwortlich ist, die im Gehirn wirken und das Aggressionsverhalten steuern. Die gleiche Mutation hatte ein Mörder gezeigt, dem 2009 strafmildernde Umstände zugestanden worden waren - ebenfalls in Italien.

Spinnt man diesen Gedanken weiter, könnten in den Gerichtssälen der Zukunft nicht mehr psychiatrische Gutachten, sondern naturwissenschaftlich fundierte Hirnscans über die Zurechnungsfähigkeit entscheiden. Der US-amerikanische Neurowissenschafter David Eagleman geht sogar so weit, das Rechtssystem mithilfe der Hirnforschung reformieren zu wollen. Sein Ansatz: Dass Justizsysteme davon ausgehen, dass Menschen rationale Entscheidungen fällen, sei falsch. Sie müssten vielmehr - anhand von Hirnscans - die Individualität der Gehirne berücksichtigen.

Noch lassen sich Zurechnungsfähigkeit und freier Wille, der in der Rechtssprechung entscheidend ist, mit Hirnscans allerdings nicht abbilden. "Es wäre schön, wenn das so wäre", sagt dazu Reinhard Haller, österreichischer Psychiater, Psychotherapeut und Neurologe und psychiatrischer Gerichtsgutachter. "Wenn man hier eine gewisse Objektivierung hineinbringen könnte, wäre das wünschenswert." Denn mithilfe der Psychiatrie sei es mitunter sogar schon schwierig, zu sagen, ob es sich bei einer Depression um eine leichte, mittlere oder schwere Form handelt.

"Therapie hilft nicht viel"

Aktuell definiert die Rechtssprechung bei der Zurechnungsunfähigkeit vier Störungen: "Wer zur Zeit der Tat wegen einer Geisteskrankheit, wegen einer geistigen Behinderung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen einer anderen schweren, einer diesen Zuständen gleichwertigen seelischen Störung (zum Beispiel Rauschzustand, Anm.) unfähig ist, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, handelt nicht schuldhaft", heißt es im § 11 StGB Zurechnungsunfähigkeit.

Grundsätzlich gehe es aber um viel mehr als das, sagt Haller. Es gehe um die Frage, "ob das menschliche Gehirn jemals in der Lage sein wird, sich selbst zu begreifen". Auf dem Weg dorthin wäre vor Gericht ein Mix aus psychiatrischen Gutachten und Hirnscans sinnvoll, sagt Hans Markowitsch, emeritierter Professor für Neurowissenschaften. Ein Scan koste 500 bis 700 Euro. "Vor 100 Jahren gab es noch keine psychiatrischen Gutachten, und so selbstverständlich, wie sie heute sind, werden eines Tages neurologische Befunde sein", sagt er.

"Wenn man bei Psychopathen sagt, dass sie nicht anders können, dass sie keinen freien Willen haben, wären auch sie vermindert strafmündig und müssten adäquat untergebracht werden", sagt Markowitsch. Eine freiheitsentziehende Maßnahme zur Unterbringung zurechnungsunfähiger Rechtsbrecher in Österreich ist der Maßnahmenvollzug. In Norwegen gibt es eine "Gefängnisinsel", die die Rechtsbrecher großteils selbst bewirtschaften. "Das funktioniert ganz gut, es ist aber teuer", so Markowitsch.

Therapie helfe indes "nicht sonderlich viel. Echte Psychopathen sind kaltherzig, weil ihre Hirnstruktur anders ist." Die Gefahr, rückfällig zu werden, sei enorm.

Der österreichische Psychologe und Neurowissenschafter Niels Birbaumer, der in Deutschland an der Uni Tübingen arbeitet, ist anderer Meinung. Er glaubt, eine Methode gefunden zu haben. Im Zuge einer Versuchsreihe konfrontierte er Schwerverbrecher mit dem Scan ihres eigenen Gehirns. "Sie saßen vor dem Bildschirm und beobachteten jene Hirnteile, die defekt sind, während sie Fotos mit angsteinflößenden Szenen sahen", sagt Birbaumer. Auf einer Art Thermometeranzeige konnten sie den Blutfluss in diesen Regionen - unter anderem in besagter Amygdala - verfolgen.

Anfangs regte sich beim Anblick der Fotos in den Hirnteilen nichts, sie lösten kein Angstgefühl aus. Nach zehn bis 15 Stunden Training schafften es die Probanden jedoch, selbst für ein Aufleuchten der Regionen auf den Scans zu sorgen - sie konnten sie durch diesen Lernprozess aktivieren, ihre Gedanken verändern. Die Studie landete dennoch in der Schublade und wurde nicht aufgegriffen - zu wenige Probanden hatten teilgenommen, um stichfeste Aussagen zu treffen.

Schwerverbrecher oder Banker

Nicht jeder, dessen Gehirn Abnormitäten wie diese aufweist, ist jedoch ein Schwerverbrecher. So mancher könnte ein erfolgreicher Banker oder Manager sein - Berufe, in denen man mitunter auch angstbefreit handeln muss. In welche Richtung sich der Mensch entwickelt, hängt zu einem noch viel größeren Teil von seinem Umfeld, seiner Bildung, seiner Geschichte ab. "Unser Gehirn wird extrem von dem geprägt, was wir erleben", sagt Klausberger. "Je jünger es ist, desto lernfähiger ist es, es ist wunderbar plastisch - und unberechenbar."