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Das rätselhafte Ich

Von Eva Stanzl

Gehirn

Bewusstsein ist die Aktivität von Milliarden von Netzwerken im Gehirn, deren Zusammenspiel ungeklärt ist.


Familie und Freunde treffen sich in einem Landrestaurant zum Mittagessen, man hat sich länger nicht gesehen. Die Freundin der Mutter ist älter geworden, aber immer noch eine äußerst fesche Person. Auch heute hält ihr eine Brille die Haare hinter die Ohren. Die Mutter trägt ihre korallenfarbene Bluse, die ihr Gesicht strahlen lässt. Der Vater sagt, er sei müde. Das sagt er oft, hoffentlich geht er bald zum Arzt, er kümmert sich viel zu wenig um seine Gesundheit - kümmert man selbst sich auch zu wenig um ihn? Ein Schwank aus dem Leben des Mannes der Freundin legt einen Teppich des Smalltalk über die Sorgen. Im Raum duften Köstlichkeiten, der Blick in die Speisekarte lässt das Wasser im Mund zusammenrinnen. Der Schwester gelüstet nach Schnitzel und dem Kind, obwohl es erst fünf ist, nach Beef Tartare. Heran schwebt der Kellner und nimmt die Bestellungen auf. Herein scheint die Sonne. Herbstliches Kaiserwetter, aber etwas zu kühl, um im Garten zu sitzen. Irgendwann wird es diese Zusammenkünfte nicht mehr geben. Man sollte sich öfter treffen.

Farben, Gerüche, Töne, Stimmungen und Empfindungen: In jedem Moment erfasst das Gehirn unzählige Einzelheiten und verknüpft sie zu einem Gesamteindruck. "Bewusstsein ist nicht nur die Fähigkeit, die Vorgänge in der Umwelt wahrzunehmen und darauf zu reagieren, sondern auch, uns unserer Schlussfolgerungen daraus gewahr zu werden", erläutert der deutsche Hirnforscher und Neurophysiologe Wolf Singer. Der Mensch verknüpft, was er erlebt, und setzt es in einen Bezug zum Ich. Zieht seine Schlüsse, vergleicht soeben Erlebtes mit seinen Erfahrungen, wägt ab, bewertet, entscheidet, worauf er die Aufmerksamkeit als Nächstes richten soll, plant die Zukunft und bereut die
Vergangenheit, empfindet Ablehnung und Vorfreude, Spannung und
Harmonie.

Doch wie das Gehirn all diese Leistungen vollbringt, ist ein Rätsel. "Wir wissen nicht, wie Bewusstsein zustande kommt", sagt Medizin-Nobelpreisträger Thomas Südhof. "Bewusstsein ist schwer nach objektiven Kriterien zu messen. Das liegt schon allein daran, dass wir nicht wissen, wie Gefühle, wie Liebe und Hass, entstehen." Natürlich ist einem selbst klar, ob man vor Wut schäumt oder vor Verliebtheit Schmetterlinge im Bauch hat. Doch um wissenschaftlich nachzuweisen, welche Teile des Gehirns dabei auf Hochtouren laufen, müssten hunderte Testpersonen hunderte Male in exakt dieselben Gefühlslagen versetzt werden können. "Auch das Gedächtnis ist dem experimentellen Beweis nicht zugänglich. Deswegen haben wir keine Ahnung, wie es wirklich funktioniert", sagt Südhof, der die Synapsen, also die Kommunikationswege im Gehirn, die sich laufend verändern, erforscht. Seine Conclusio zum Sitz des Ich: "Das Bewusstsein, und damit das Ich, ist ein Ergebnis der Aktivität einer Riesenmenge von Netzwerken im Gehirn, die alle zusammenspielen."

Der französische Philosoph René Déscartes führte Mitte des 17. Jahrhunderts das Selbstbewusstsein als philosophisches Thema ein. Sein erster Grundsatz, "Cogito ergo sum" oder "Ich denke, also bin ich", beruht auf einer philosophischen Analyse der eigenen Existenz. Selbst wenn keine persönliche Wahrnehmung der Wahrheit entspricht, selbst wenn nirgends bewiesen ist, dass der Stuhl, auf dem man selbst in diesem Moment sitzt, tatsächlich existiert, selbst wenn "wir überhaupt keinen Körper haben", können wir "nicht annehmen, dass wir, die wir solches denken, nichts sind; denn es ist ein Widerspruch, dass das, was denkt, in dem Zeitpunkt, wo es denkt, nicht bestehe."

Netzwerk kann mehr als alle Teile

Das englische Wort "mind" wird ins Deutsche gleichermaßen mit Geist, Seele und Verstand übersetzt. Im Angelsächsischen steht der Begriff jedoch für die Fähigkeit, was wir denken mit dem zu vereinen, was wir innerlich spüren. "Mind" kann mit dem "Nous" der antiken griechischen Philosophie verglichen werden. Es bezeichnet die Fähigkeit, etwas geistig zu erfassen, und die Instanz, die für Erkennen und Denken zuständig ist: das Bewusstsein.

Hirnforschern zufolge beginnt Bewusstsein mit Einzeleindrücken. Der Fachbegriff lautet "Qualia", aus dem Lateinischen für "wie beschaffen". Qualia sind die Grundeinheiten jeder bewussten Erfahrung. Allerdings sehen wir die Brille im Haar nicht als von der Freundin losgelöst, überkommt uns die Überraschung über den Menüwunsch nicht ohne den fünfjährigen Neffen und begleitet schlechtes Gewissen die Sorge über den Vater: Es ist unmöglich, die Qualia getrennt wahrzunehmen. Doch wie entsteht aus ihnen das Erlebnis im Landrestaurant? Laut dem US-Hirnforscher Christoph Koch haben alle Qualia eigene Plätze im Gehirn. Manche Nervenzellen-Netze feuern nur, wenn wir ein bekanntes Gesicht sehen, andere nur bei der Farbe Koralle. Feuernde Netzwerke werden jedoch erst dann zu Bewusstsein, wenn sich die Qualia neu verknüpfen, sich also zu neuen Erfahrungen zusammensetzen.

Nach Ansicht Kochs entsteht Bewusstsein in der Großhirnrinde und breitet sich von dort in andere Gehirnregionen aus. Nervenzellen, die bei Farben, Formen oder Gesichtern aktiv werden, verbinden sich mit Neuronen, die Erinnerungen oder Gefühle bilden und fließen über die Synapsen wieder zurück. Somit erzeuge das Netzwerk im Gehirn mehr Information als die Summe seiner Teile, ist der italienische Hirnforschers Giulio Tononi überzeugt.

Forscher schreiben allen höher entwickelten Tieren Fähigkeiten des Bewusstseins zu. Alle Säugetiere richten ihre Aufmerksamkeit und verwalten ein episodisches Gedächtnis. Dass sich die Evolution für derart komplexe Steuerungszentralen entschieden hat, dürfte daran liegen, dass das Gehirn ein spezialisierter Generalist ist. Es nimmt ständig Sinneswahrnehmungen auf, interpretiert die Umwelt laufend und funktioniert umso besser, je komplexer sein Netzwerk wird, weil es dann die Welt immer klüger bewertet, aber nie zum Fachtrottel wird. Das Gehirn ist für alle Eventualitäten gerüstet.

Das Ich, gefangen im Selbst

Doch diese herausragende Fähigkeit hat einen paradoxen Preis. Sie verunmöglicht die Außensicht auf das Ich. Denn das Gehirn denkt nicht, sondern der Mensch denkt, wie der Psychiater Thomas Fuchs vom Universitätsklinikum Heidelberg betont: Personen, und nicht Neuronenverbände denken, fühlen und handeln.

Neuronale Verschaltungen sind genetisch angelegt. Neugeborene Menschen werden zu Personen, wenn Prägung und Lernen die angeborenen Verschaltungen formen und deren Funktionen laufend modifizieren. "Wasimmer wir im Leben erlernen, ist durch unser sozio-kulturelles Umfeld geprägt. Die laufende Anpassung an unsere sozialen Realitäten gibt uns somit stets neue Wirklichkeiten vor", erläutert Wolf Singer. Da wir jedoch die dahinterstehenden Prozesse im Gehirn nicht spüren können, fehlt uns der Einblick in unser Inneres. Wir sind ganz und gar davon überzeugt, dass die Welt genau so ist, wie wir sie wahrnehmen. Und merken nie, dass alles, was wir erfahren, auf Prägung beruht.

"Es entstehen wirkungsmächtige, immaterielle Realitäten", sagt Singer. "Menschen können gemeinsam einen Sonnenuntergang erleben und sich darüber austauschen, wie schön sie ihn finden. Sie können über immaterielle Qualitäten wie Geiz, Großzügigkeit, Liebe und Hass, Freiheit und freien Willen diskutieren und sich in andere hineinversetzen. Doch sie werden diese immaterielle Welt genauso konkret erfahren wie die Welt der Dinge, und sich als Teile davon erleben."

Wie es scheint, besteht keine Möglichkeit, die eigenen Wahrnehmungen als Konstrukt zu verstehen, weil die Vogelperspektive fehlt: "Wir halten das im Inneren Wahrgenommene für real, und diese Wahrnehmung bleibt unwidersprochen", sagt Singer. Das erkläre auch den Glauben an eine spirituelle Welt: Was wir nicht wissen können, sind wir verleitet, zu glauben.