Wiener Zeitung: Wien ist die am schnellsten wachsende Großstadt Europas. Die Zahl der Ärzte mit Kassenverträgen bleibt aber seit Jahren konstant oder sinkt sogar. Die Ärztekammer fordert 300 deshalb zusätzliche Kassenverträge. Wieso gewährt die GKK nicht mehr Kassenverträge?

Ingrid Reischl hofft, dass Primärversorgungszentren die Versorgung in Wien verbessern. - © WGKK
Ingrid Reischl hofft, dass Primärversorgungszentren die Versorgung in Wien verbessern. - © WGKK

Ingrid Reischl: Die Festsetzung der Anzahl und der örtlichen Verteilung von Kassenplanstellen erfolgt gemeinsam zwischen der WGKK und der Ärztekammer (ÄK) für Wien unter Beachtung des Regionalen Strukturplans Gesundheit (RSG). Mit dieser Planungsgrundlage werden Veränderungen wie Bevölkerungswachstum bei der Planung und Neuvergabe von Kassenstellen berücksichtigt.

Gemäß den Planungen des RSG ist Wien sowohl durch Ärztinnen/Ärzte für Allgemeinmedizin als auch durch Fachärztinnen/Fachärzte sehr gut versorgt. Dies lässt sich auch gut daran erkennen, dass Wien im österreichweiten Vergleich die höchste Ärztedichte aufweist, obgleich es in Österreich generell eine hohe Ärztedicht gibt.

Bei Fachärzten zeigt sich in einzelnen Bezirken ein dramatisches Bild: Legt man z. B. die Zahl der Ärzte auf die Wohnbevölkerung um, dann steht etwa in Simmering für 5000 Kinder unter 14 Jahren im Durchschnitt nur ein Kinderarzt mit Kassenvertrag zur Verfügung. Im 8. Bezirk kommen auf einen Facharzt der Kinderheilkunde nur etwa 400 Jung-Patienten. Es gibt zwar eine gute Öffi-Anbindung in Wien, dennoch ist es bespielsweise dann, wenn man erkrankte Kleinkinder hat, von Vorteil, eine Praxis in der Nähe des Wohnortes zu haben. Wie addressiert die GKK das Problem?

Es ist hierbei wichtig zu berücksichtigen, dass die fachärztliche Versorgung nicht zwingend wohnortnah erfolgen muss. Viele Personen nehmen fachärztliche Leistungen gerne in der Nähe ihres Arbeitsplatzes in Anspruch. Daher ist die Verteilung von Facharztstellen über die Bezirke nicht immer mit den bestehenden Einwohnerzahlen zu begründen, sondern es sind auch die Arbeitsplätze zu berücksichtigen. Das erklärt auch die außergewöhnlich hohe Facharztdichte im ersten Bezirk.

Um die Stadtentwicklung und das Wachstum einzelner Bezirke jedoch besonders zu berücksichtigen, gibt es das Bestreben der WGKK, Arzt- bzw. Facharztstellen zwischen den einzelnen Regionen sinnvoll zu verteilen. Zur Unterstützung dieser Versorgungsplanungen wurde per 1. Jänner 2014 ein Strukturförderungstopf eingerichtet. Damit kann gewährleistet werden, dass Arzt- bzw. Facharztstellen in den Gebieten mit einem starken Bevölkerungswachstum ausgeschrieben werden, um in allen Bezirken eine gute Versorgung zu gewährleisten. Speziell in den Fachbereichen Kinder- und Jugendheilkunde, Frauenheilkunde sowie Neurologie und Psychiatrie wird dies bei der Stellenbesetzung von WGKK und ÄK für Wien vermehrt verfolgt.

Laut Ärztekammer ordinieren 1.577 Kassenärzte - 779 Allgemeinmediziner und 798 Fachärzte - in der Bundeshauptstadt. Im Jahr 2000 waren es noch 1.668. Deshalb kommen immer mehr Menschen auf eine Kassenordination. In schnell wachsenden Bezirken bekommt man etwa bei Frauenärzten oder Neurologen durchschnittlich erst nach drei bis vier Wochen einen Kontrolltermin, bei Augenärzten müssen Patienten in manchen Fällen gar bis zu drei Monaten warten, heißt es seitens der Ärztekammer. Was unternimmt die WGKK gegen diesen Trend?

Es ist der WGKK wichtig darauf hinzuweisen, dass Vertragsärztinnen/-ärzte gegenüber allen Anspruchsberechtigten, die die Vertragsordination aufsuchen, grundsätzlich behandlungspflichtig sind. Jedenfalls in medizinisch dringenden Fällen haben die Vertragsärztinnen/-ärzte stets die erforderliche ärztliche Hilfe zu leisten. Auf die Gestaltung des Terminmanagements hat die WGKK keinen Einfluss - maßgeblich ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass es bei der Terminvergabe keine unzulässigen Bevorzugungen geben darf.

Allein seit Ende 2010 ist die Zahl der Wahlärzte in Wien um 348 auf derzeit 2.827 geklettert. Viele davon sind hauptberuflich als Wahlärzte tätig. Da die Refundierung nicht kostendeckend ist, entsteht hier der Eindruck einer Klassenmedizin: Eher vermögende Kranke werden schnell und intensiv vom Wahlarzt betreut, nicht so Begüterte müssen längere Wartezeiten beim Kassenarzt in Kauf nehmen. Was ist die Meinung der GKK zu dieser Entwicklung?

Wie bereits erwähnt, gibt es in Wien eine gute, auf Basis des RSG bestehende, ärztliche Versorgung mittels Vertragsärztinnen/-ärzten, die für ärztliche Leistungen in Anspruch genommen werden können.

Somit wird gewährleistet, dass alle Anspruchsberechtigten die Möglichkeit haben, Kassenärztinnen/-ärzte aufzusuchen und unter denselben Voraussetzungen ärztlich betreut zu werden. Auf Grund der freien Arztwahl ist es allerdings allen Anspruchsberechtigten frei gestellt, welche Ärztin bzw. welchen Arzt sie zur Untersuchung und Behandlung aufsuchen. Die Wahl besteht sowohl zwischen Vertragsärztinnen/-ärzten als auch Wahlärztinnen/-ärzten.

Jedenfalls gibt es laut OECD in Österreich die höchste Ärztedichte unter allen OECD-Ländern. Laut den Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat Österreich unter allen OECD-Ländern eine der höchste, wenn nicht sogar die höchste Ärztedichte pro Einwohner. Wir liegen damit vor Deutschland, der Schweiz und vielen anderen europäischen Ländern. Hinzu kommt, dass in Österreich die Zahl der Ärztinnen und Ärzte in Relation der zur versorgenden Bevölkerung in der Vergangenheit stärker gestiegen ist als in Deutschland.

Ist das System der Kassenordinationen gefährdet? Angeblich steigt die Zahl der Mediziner, die Kassenverträge ablehnen, weil sich damit nicht kostendeckend arbeiten ließe.

Seitens der WGKK kann kein Rückgang von Interessenten an Kassenverträgen festgestellt werden. Sowohl auf ausgeschriebene Stellen für Allgemeinmedizin als auch bei den unterschiedlichen Facharztstellen gibt es immer ausreichend viele Bewerbungen.

Was können aus Sicht der WGKK die Ärzte beitragen, um das medizinische Angebot zu verbessern?

Die stetige Verbesserung des medizinischen Angebots erfolgt gemeinsam von WGKK und der Interessenvertretung der Ärzteschaft, im Konkreten der Ärztekammer für Wien. Im Rahmen der regelmäßig stattfindenden Verhandlungen wird versucht, die bestehenden Leistungskataloge laufend im Sinne der medizinischen Neuerungen zu überarbeiten, um die Versorgung unserer Anspruchsberechtigten an den jeweiligen Stand der ärztlichen Wissenschaft anzupassen.

Wer einen Wahlarzt konsultiert, hat Anspruch auf Kostenersatz. Die Krankenkassen bezahlen 80 Prozent jenes Tarifs, den ein Kassenvertragsarzt bezahlt bekommen würde. Welche Mehrkosten würden der WGKK ungefähr entstehen, würden 100 Prozent vergütet?

Die gesetzlich vorgesehene Erstattung der Kosten im Ausmaß von 80 Prozent des so genannten Kassen- bzw. Vertragstarifs führte im Jahr 2013 allein für Leistungen durch Ärztinnen/Ärzte für Allgemeinmedizin und Fachärztinnen/Fachärzte zu Aufwendungen in der Höhe von mehr als 15 Millionen Euro. Eine Erhöhung der Kostenerstattung auf 100 Prozent dieser Tarife würde ungefähr berechnet mehr als drei Millionen Euro jährlich betragen. Da eine derartige Änderung jedoch auch Auswirkungen auf die der ärztlichen Hilfe gleichgestellte Leistungen (wie etwa Physiotherapie etc) hätte, wären die zusätzlichen Aufwendungen um ein Wesentliches höher.

Auch die Leistungskataloge für medizinische Leistungen stehen in der Kritik. Sie würden laut Ärzteschaft zum Teil nicht mehr den aktuellen betriebswirtschaftlichen Anforderungen genügen, in Einzelfällen gar den medizinischen Wissensstand ignorieren. Auch die Bedürfnisse der Patienten würden nicht immer erfüllt (Stichworte etwa Hepatits-Medikamente oder Physiotherapie). Ist diese Kritik berechtigt?

Die WGKK strebt stets danach, die Leistungskataloge so zu gestalten, dass sie sowohl an den medizinischen state of the art angepasst sind, aber auch der Ärzteschaft eine adäquate Honorierung ihrer Leistungen gewährleistet. Da die Festlegung der Leistungskataloge ausschließlich gemeinsam zwischen WGKK und Ärztekammer für Wien erfolgen kann, ist dies natürlich nur im Wege von Verhandlungen möglich. Wir dürfen jedoch darauf aufmerksam machen, dass alleine im letzten Jahr einige neue Leistungen in den Honorarkatalog aufgenommen wurden und zusätzlich bei einer Vielzahl von Leistungen Änderungen - insbesondere auch bezüglich bestehender Qualitätskriterien - erfolgten.

Für die soziale Krankenversicherung in Österreich stehen die Patientinnen und Patienten stets im Mittelpunkt. So hat sie als eine der Ersten europaweit die im Jahr 2014 neu auf den Markt gekommenen Medikamente zur Therapie der Hepatits-C insbesondere für jene Patientinnen und Patienten, die besonders von der Behandlung profitieren, übernommen. Bei Kosten von fünf- bis zu sechsstelligen Eurobeträgen pro Therapiezyklus hat z.B. die WGKK 2014 rund 20 Millionen Euro inkl. USt für diese Behandlungen zur Verfügung gestellt.

Müsste die Einnahmenstruktur nicht geändert und der Finanzierungsbedarf neu angesetzt werden, damit die Wiener Gebietskrankenkasse den offensichtlich gestiegenen Anforderungen nachkommen kann?

Bei dieser Frage darf man die Ausgaben nicht außer Acht lassen. Die WGKK ist nämlich nicht nur auf der Einnahmen-, sondern auch auf der Ausgabenseite stark belastet.

Bei Einnahmen und Ausgaben spielen Faktoren der Versichertengemeinschaft, wie das Alter und die Berufe der Versicherten, eine große Rolle. So tun sich Krankenkassen in Bundesländern mit einem höheren Beschäftigungswachstum zum Beispiel im Industriebereich leichter, als Krankenkassen in einem Bundesland wo es viele Pensionistinnen und Pensionisten, Arbeitslose oder prekäre Beschäftigungsverhältnisse gibt.

So stiegen etwa für die OÖGKK die Beitragseinnahmen zwischen 1999 und 2013 um 72,1 Prozent. Die WGKK verzeichnet hingegen nur ein Plus von 55,1 Prozent. Das ist unter anderem an eine sich entwickelte Wirtschaftsstruktur einer Großstadt zurückzuführen. Viele Industrieunternehmen und damit Industriearbeitsplätze siedeln aus der Bundeshauptstadt in ländlichere Produktionsgebiete ab, während andere Bereiche, wie der Handel oder der Dienstleistungsbereich, aufgrund des Bevölkerungswachstums in der Großstadt, im Steigen begriffen sind. Gerade in diesen Bereich ist jedoch der Anteil der Teilzeitbeschäftigten sehr hoch.

Auf der Ausgabenseite hängen viele Kosten von der Anzahl der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte zusammen - und in Österreich - speziell in Wien - gibt es nun einmal viele Ärztinnen und Ärzte, die Verträge mit den Gebietskrankenkassen haben.

Zu betonen ist bei der Frage auch, dass unser Gesundheitssystem solidarisch aufgebaut ist. Jede Versicherte bzw. jeder Versicherter wendet von ihrem/seinem Einkommen einen gewissen Prozentsatz für die Sozialversicherung auf. Eine Kassiererin im Supermarkt wird daher weniger Geld einzahlen als ein Abteilungsleiter eines Industrieunternehmens. Im Krankheitsfall bekommen aber beide dieselbe Leistung - so wird Krankheit nicht zur Kostenfalle, wie es in anderen Ländern der Fall ist.

Welche kurz–, mittel– und langfristigen Maßnahmen wären aus der Sicht der WGKK nötig, um die finanzielle Leistungsfähigkeit der Kasse zu sichern und dem gestiegenen bzw. veränderten Bedarf anzupassen?

Zur Sicherstellung der nachhaltigen Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems und der Krankenversicherungsleistungen in Wien müssen sowohl einnahmen- als auch ausgabenseitig Konsolidierungsmaßnahmen durchgeführt werden. Dabei muss der objektive Bedarf der Bevölkerung nach Gesundheitsleistungen durch ein optimales Angebot gedeckt werden.

Der Gestaltungsspielraum, den der Gesetzgeber den einzelnen Krankenversicherungsträgern zur Konsolidierung gestattet, ist sehr gering und durch die WGKK bereits weitestgehend ausgeschöpft.

Im Rahmen der Gesundheitsreform werden jedoch Maßnahmen nicht nur zur Verbesserung der Versorgung, sondern auch zur Erhöhung der Effizienz gesetzt. Durch die Stärkung der hausärztlichen Versorgung durch Primärversorgungszentren in Wien können beispielsweise zukünftig Patientinnen und Patienten bei allgemeinen gesundheitlichen Beschwerden nicht nur besser, sondern auch kosteneffizienter als bei teuren und überlaufenen Fachärztinnen bzw. Fachärzten sowie Spitalsambulanzen behandelt werden.

Darüber hinaus können zur Sicherstellung der mittel- und langfristigen Finanzierbarkeit die Risiken der Versichertenstruktur in Wien sowohl einnahmen- als auch ausgabenseitig durch einen wirksamen solidarischen Risikoausgleich bzw. eine ausgeglichenere Versichertenstruktur verbessert werden.

In der Vergangenheit sind beispielsweise rund 100.000 Vertragsbedienstete, die zuvor bei der WGKK versichert waren, per Gesetz zur Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter gewandert. Die BVA wurde so saniert und hatte ein Beitragsplus von 79,7 Prozent.