Als Alarmisten kann man Georg Feulner nicht bezeichnen, auch wenn dem renommierten deutschen Klimaexperten vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung dies mitunter vorgeworfen wird. Dabei drängt die Zeit tatsächlich. Die Konzentration von CO2 in der Atmosphäre gehe ungebremst nach oben, die Menschheit befinde sich auf einem "Business as usual"-Pfad, sagt Feulner. Als Erdsystemanalyst versucht er, das komplexe System aus Atmosphäre, Biosphäre, Ozean und Eis zu verstehen. Zentraler Kern seiner Forschung sind die sogenannten Kipp-Elemente.

"Wiener Zeitung": Was sind Kipp-Elemente und was wissen Sie darüber?

Georg Feulner: Kipp-Elemente sind unvorhergesehene Effekte im Klimasystem, deren Verhalten sich schlagartig ändern kann. Ein Beispiel für ein Kipp-Element wäre die Ozeanzirkulation im Atlantik. Wenn durch schmelzendes Eis zu viel Süßwasser in den Nordatlantik eingebracht wird, kann die Zirkulation abgeschwächt werden oder gar zum Erliegen kommen. Folgen wären etwa eine Abkühlung im Nordatlantikraum und ein Anstieg des Meeresspiegels an der US-Ostküste. Wir sehen, dass sich diese Umwälzbewegungen von Wasser im 20. Jahrhundert abgeschwächt haben. Bei welchem Gradniveau globaler Erwärmung das umkippen könnte, können wir noch nicht sehr gut quantifizieren.

Die Permafrostböden sind auch ein Kipp-Element. Welches Risiko geht von ihnen aus?

Diese Dauerfrostböden haben große Mengen Kohlenstoff gespeichert. Sie bergen das Risiko, dass durch das Auftauen relativ schnell zusätzlicher Kohlenstoff freigesetzt wird und dieser die Erwärmung beschleunigt. Das wirkt sich wiederum auf unser vorhandenes CO2-Budget aus, das dadurch kleiner wird.

Es heißt, wenn Kipp-Elemente einmal in Gang gesetzt sind, kann man sie nicht mehr stoppen. Bei welchen ist diese Gefahr am größten?

Es mehren sich die Anzeichen, dass beim westantarktischen Eisschild tatsächlich dieses Kippen schon angestoßen wurde und dass es nicht mehr aufzuhalten ist. Bei Grönland besteht die Befürchtung, dass in naher Zukunft dieses fortschreitende Abschmelzen ausgelöst wird. Das ist eine positive Rückkopplung, die dadurch zustande kommt, dass beim Schmelzen der Eisschild dünner wird und in niedrigere und wärmere Atmosphärenschichten kommt und dadurch der Schmelzvorgang verstärkt wird. Das passiert nicht bis 2100, sondern eher in Zeitskalen von Jahrtausenden. Aber wir sprechen von einem Meeresspiegelanstieg von sieben Metern, die das Schmelzen schon in naher Zukunft auslösen kann.

Land unter also, so wie jüngst in Venedig. Merken Sie, dass durch solche Ereignisse der Klimawandel im Bewusstsein der Menschen immer mehr ankommt?