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Erinnerungen an das Kriegsende 1945

Von Mathias Ziegler

"Mama, der Krieg ist aus": Der Fotograf Arnold Samuel (1911 – 1990) dokumentiert im Mai 1945 die Zerstörungen in Wien. Auf dem Bild schaut sein Sohn aus dem Fenster.
© Arnold Samuel

70 Jahre sind eine lange Zeit. Trotzdem ist bei vielen die Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkriegs im Mai 1945 sehr lebendig.


Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg. Zumindest offiziell. Freilich kapitulierten einerseits verschiedene deutsche Truppenteile schon früher vor den Alliierten. Andererseits war auch noch danach nicht überall Frieden. Und genauso divergent sind auch die Erinnerungen der verschiedenen Zeitzeugen, die damals Kinder oder Jugendliche waren. Den Großteil hat das "Wiener Journal" im Rahmen eines Gesprächskreises der "Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen" getroffen, die am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien seit einigen Jahrzehnten lebensgeschichtliche Erinnerungen zu den unterschiedlichsten Themen unter dem Motto "Damit es nicht verlorengeht …" sammelt und publiziert.

"Oral History" nennt sich dieser vergleichsweise junge Zweig der Geschichtsforschung, den der Historiker Gert Dressel als "Demokratisierung der Geschichtsschreibung" bezeichnet. "Es ist eine gewisse Infragestellung dessen, dass die akademischen Experten die ausschließliche Deutungsmacht haben", sagt er. Statt nur die Geschichte wichtiger Menschen zu erzählen, stehen bei der "Oral History" seit den 1970ern die sogenannten "kleinen Leute" und deren Wahrnehmungen im Fokus. Was bei diesen Erzählungen herauskommt, hat kein Archiv zu bieten.

"Oral History" ist mehr als eine bloße Ergänzung der akademischen Geschichtsschreibung, meint Dressel. Sie sagt auch etwas über die jeweilige Erinnerungskultur aus: "Es gibt in jeder Gesellschaft Regeln und Normen darüber, woran man sich kollektiv erinnert – und woran nicht. Das ist natürlich nie statisch, das verändert sich. Die Erzählungen von Zeitzeugen sagen also auch etwas darüber aus, was nicht erzählt wird und was nicht vergessen werden darf."
Freilich: "Wenn sich Menschen an ihre eigene Geschichte erinnern, passiert das natürlich nur aus dem Hier und Jetzt heraus. Geschichte ausschließlich aus mündlichen Überlieferungen zu schreiben, wäre ein Anspruch, der völlig in die verkehrte Richtung ginge", sagt Dressel. Andererseits verweist er auf ein Projekt in der Buckligen Welt, bei dem rund 350 alte Menschen zu ihrer Alltagsgeschichte in der Region im 20. Jahrhundert befragt wurden. "So etwas hat dann schon einen Mehrwert. Die Befragten erzählen ja nicht alle homogen, sondern sie erzählen als Frauen, Männer, Kinder, als Verfolgte oder Anhänger des Nationalsozialismus. Solche Collagen können dann auch für sich stehen."

"Oral History" braucht sehr viel Vertrauen

Dass solche Erinnerungen oft erst Jahrzehnte nach dem Erleben aufbrechen und die Betroffenen Dinge zu erzählen beginnen, die sie davor lange Zeit selbst im engsten Familienkreis für sich behalten haben, erklärt der deutsche Psychoanalytiker Michael Ermann damit, dass "diese Kriegskinder heute in einem Alter sind, in dem sie die Vergangenheit gleich zweifach einholt". Einerseits sorgen neurophysiologische Prozesse dafür, dass man sich im Alter plötzlich wieder an Erlebnisse erinnert, die lange verschüttet waren. Andererseits ist das Alter laut Ermann eine Lebensphase, in der alles, was jahrzehntelang Halt gab – Familie, Beruf – ,langsam wegbricht. "Und dann fällt auch die mentale Abwehr in sich zusammen", sagt der emeritierte Universitätsprofessor der Ludwig-Maximilians-Universität in München im "Spiegel".

Auch Dressel hat festgestellt, dass gerade alte Menschen oft das Bedürfnis haben, ihre Geschichte noch einmal zu erzählen, auch um sich zu vergewissern, ob sie wirklich ein gutes Leben gehabt haben. "Sie haben ja in 80, 90 Jahren unglaublich viel Wandel durchgemacht." "Oral History" ist aber keine Gesprächstherapie, betont Dressel. Auch wenn mitunter Tränen fließen. "Meine Erfahrung ist aber, dass die Leute sehr genau wissen, wie weit sie gehen können. Ich habe noch keine Situation erlebt, die gekippt wäre." Es geht auch nicht um Bewertungen. Sein Credo lautet: Erst einmal erzählen, später diskutieren. Und es braucht eine wirklich gute Moderation, um Vertrauen zu schaffen. "Dann kann auch  eine gewisse Akzeptanz für Unterschiedlichkeit  entstehen."
Das trifft auch auf den lebensgeschichtlichen Gesprächskreis zu, in dem 20 bis 30 Zeitzeugen seit mehreren Jahren einmal im Monat im Wien Museum zusammenkommen. Die Organisation dieser Treffen teilt sich Dressel, der eigentlich am Institut für Wissenschaftskommunikation und Hochschulforschung an der Fakultät für Interdisziplinäre Fortbildung und Fortbildung (IFF) Wien der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (Wien und Graz) angesiedelt ist, mit Günter Müller, der die Dokumentationsstelle am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte operativ leitet.

Die Themen, mit denen sich der Gesprächskreis befasst – Generationen in der Stadt, Gärten, Fortbewegung – klingen zunächst nicht so spektakulär, sagt Dressel, aber: "Dadurch, dass in diesem recht intimen Kreis schon sehr viel Vertrauen entstanden ist, kommen auch Geschichten heraus, die mehr als nur reine Anekdoten sind. Zum Beispiel kam beim Thema Fortbewegung dann auch sexuelle Belästigung in der Straßenbahn zur Sprache. Da müssen sich die Betroffenen schon sicher sein, dass das, was sie erzählen, in guten Händen ist. Vertrauen ist überhaupt die Voraussetzung dafür, dass sich Menschen gut erinnern und das auch erzählen können." Deshalb ist der Gesprächsrahmen so wichtig. Die Zeitzeugen müssen sehen, dass verantwortungsvoll mit ihren Erzählungen umgegangen wird "und sie nicht zu bloßen Forschungsobjekten reduziert werden".

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