Holger Rust, geboren 1946, ist Publizist und Professor für Soziologie in Hannover.
Holger Rust, geboren 1946, ist Publizist und Professor für Soziologie in Hannover.

Es ist ja schon einmal höchst ungewöhnlich, dass, wie ich in der U-Bahn irritiert beobachten konnte, sich einer auf den Nebenplatz setzt und nicht sein Smartphone zückt, sondern ein Buch. Noch ungewöhnlicher ist es, wenn das jemand tut, der nach allen gängigen und vielleicht sogar in vielen Fällen bestätigten Vorurteilen nun seinem Habitus gemäß alles andere als die Beschäftigung mit einem Buch vermuten ließe: Kapuzen-T-Shirt mit Totenkopf-Design, abgewrackte Jeans, Sneakers, die seit Monaten nicht mehr gereinigt worden waren, Irokesenfrisur und zum Schmuck irgendwas Metallisches im Gesicht.

Das weckte meine Aufmerksamkeit, wobei der forschende Geist des Soziologen immer auch ein Prinzip wittert: Bahnt sich hier die Wende der Zivilisationspraktiken an? Sehe ich das erste Wetterleuchten eines Trends? Kommt die Techlash-Revolution aus einer Ecke, aus der wir sie gar nicht vermuten?

Doch diese Gedanken zerstoben, als ich mit Hilfe allerlei unauffälliger Verrenkungen jene Neugier endlich befriedigt hatte, die jeden befällt, neben dem in der Öffentlichkeit jemand sitzt, der ein Buch liest. Ich konnte zwar die Titelseite nicht erkennen, denn der junge Mann hatte die bereits gelesenen Seiten des Buches - was ich nun überhaupt nicht leiden kann - umgebogen. Doch der Aufbau dieses Werkes, das er da las, ist einmalig, es reicht eine Seite, um zu erkennen, was es ist, eine Seite zum Beispiel, auf der kurze Statements durch Ziffern, 2.0122, 2.0123 oder 2.01231 und so weiter geordnet sind - klar: Wittgensteins "Tractatus logico-philosophicus".

Das war nun wirklich eine erklärungsbedürftige Situation. Doch fiel mir, erstens, kein Trick ein, das Rätsel zu lösen. Man kann ja nicht einfach fragen: "Alter, du siehst irgendwie aus wie ein Punk und liest Ludwig Wittgenstein, wie geht das so?" Und zweitens tauchte in diesem Moment neben dem jungen Mann ein Kontrolleur auf und verlangte die Fahrausweise. Der junge Mann sah ihn nur an und schwieg. Es wirkte so, als ob er, was diese Frage angeht, die unter der einfachen und letzten Ziffer 7 des "Tractatus" ausgeführte Weisheit für sich zum Prinzip erhoben hatte: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen."

Nun hätte der Kontrolleur, zählte er auch zu den Überraschungsliteraten, darauf mit der Ziffer 6.5 antworten können: "Wenn sich eine Frage überhaupt stellen lässt, so kann sie auch beantwortet werden." Vielleicht hat er das sogar, aber ich weiß es nicht, ich musste den Zug an der nächsten Haltestelle verlassen. Allerdings ist eher anzunehmen, dass er auf eine einschlägige Ziffer in den Beförderungsbedingungen des öffentlichen Nahverkehrsmittels verwies.

Wie auch immer, Wittgenstein wusste offensichtlich, wovon er redete, auch wenn die konkreten Variationen seiner Wahrheiten sehr unterschiedlich sein können. Aber es kommt ja wohl darauf an, dass die Sache irgendwie prinzipiell übereinstimmt, weil: "Die Welt ist alles, was der Fall ist."