- © Brill/ullstein
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"Wiener Zeitung": Herr Eilenberger, in Ihrem Buch "Zeit der Zauberer" beschreiben Sie die außerordentliche philosophische Produktivität, die in den Jahren zwischen 1919 und 1929 entstand. Welche Philosophen waren dafür verantwortlich?

Wolfram Eilenberger: Man kann sagen, dass die 20er Jahre eine Achsenzeit unserer heutigen Lebens- und Kulturform waren. Und tatsächlich ist es so, dass diese vier Gestalten, die ich gewählt habe, Ludwig Wittgenstein, Martin Heidegger, Walter Benjamin und Ernst Cassirer - als die "Zauberer" meines Buches - das Zelt des heutigen Denkens aufgeschlagen haben.

Die philosophischen Einzelkämpfer hatten wenig miteinander zu tun; zu verschieden waren ihre Herkunft, ihre sozialen Milieus und ihre philosophischen Intentionen. Worin besteht die Gemeinsamkeit dieser vier Philosophen?

Die vier Gestalten sind Beispiele für eine Gesamtbewegung des Philosophierens, in der Leben und Denken, Theorie und Existenz, Einfälle und Erfahrungen ganz eng geführt werden. Die Idee, dass man sein eigenes Philosophieren zu einem großen Programm vereinigt, ist eine Ursprungsidee der Philosophie, die von Sokrates in ausgezeichneter Weise verkörpert wird. Das ist ein Ideal, das ein jeder der vier Denker in seiner je eigenen Auffassung dessen, worum es beim Philosophieren geht, antreibt.

Wie sehen die spezifischen Lebensstile der einzelnen Philosophen aus?

Benjamin ist der typische klassische weltläufige Prekariatsjournalist, der in der Großstadt leben will; der in Exzessen, sei es in der Spielsucht, sei es in den Bordellen, sei es in der Drogenerfahrung gewisse Extremformen der Erfahrungen auszumachen meint, die besonderen Erkenntniswert haben. Heidegger sucht den Rückzug in der Geborgenheit seines völkischen Umfeldes in der Hütte in Todtnauberg. Wittgenstein wird zum spirituell Suchenden, der in der Einsamkeit und Bedürfnislosigkeit nach geistiger Klarheit sucht. Und schließlich Cassirer - der klassisch bürgerliche, glückliche Denkbeamte, der aus dem großbürgerlichen Milieu heraus seine bildungsbürgerliche Tradition fortführt.

Sehen Sie Parallelen zur gegenwärtigen Lebenswelt?

Wenn man die vier Philosophen typologisch einordnet, stehen sie für vier Existenzweisen, die bis heute noch sehr aktuell sind. Ich glaube, wenn wir unseren Bekanntenkreis ansehen, finden wir Menschen, die jeweils eine dieser vier Sehnsüchte verkörpern: Wir haben den Ausstieg in die Spiritualität, eine bestimmte völkische Verankerung, wir haben den Großstadtroman und wir haben die Idee, dass man im Großbürgerlichen am Besten existiert.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die moderne Philosophie ihren letzten großen Innova-
tionsschub durch diese vier Denker in den 1920er Jahren erfahren hat. Wie sah diese Wirkung aus?

Wenn Sie heute die großen Schulen in der akademischen Philosophie betrachten, sind alle diese Schulen auf diese vier Gründergestalten rückführbar. Man kann das ausbuchstabieren, indem man sagt, die Hermeneutik, der Existenzialismus und die Dekonstruktion basieren auf den Werken von Heidegger. Was wir analytische Philosophie nennen, ist integral mit Wittgenstein verbunden. Walter Benjamin ist die Urgestalt der Kritischen Theorie und damit auch der Frankfurter Schule, und das, was wir heute Kulturphilosophie nennen, ist ohne die Gestalt von Ernst Cassirer nicht denkbar.

Ein wesentlicher Einschnitt im Denken des philosophischen Quartetts war die Barbarei des Ersten Weltkrieges. Wie wurde dieses Geschehen aufgearbeitet?

Ich glaube, es hat mit einem Bewusstsein zu tun, dass die Kultur als Gesamtheit und somit die Sprache dieser Kultur in eine Sackgasse geraten ist. Alle kamen aus dem Krieg mit dem Bewusstsein, dass die kulturelle Entwicklung zu einem Stillstand gekommen ist, dass sie sich entlarvt hat als etwas Falsches und dass man so nicht mehr sprechen kann, auch nicht philosophisch, wie man vorher gesprochen hat.

Wittgenstein war wohl der radikalste der vier Philosophen, der Denken und Leben als Einheit betrachtete. Es war kein Erfolgsprojekt, wie Wittgenstein bekannte. "Nun ist mein Leben eigentlich sinnlos geworden", schrieb er an seinen Freund Paul Engelmann.

Strebte danach, nach ganz eigenen Ansätzen zu leben und zu handeln: Ludwig Wittgenstein. - © Wikipedia gemeinfrei
Strebte danach, nach ganz eigenen Ansätzen zu leben und zu handeln: Ludwig Wittgenstein. - © Wikipedia gemeinfrei

Wittgenstein ist sicher ein beeindruckendes Beispiel einer Existenz, die in ganz konsequenter Weise danach strebte, nach ganz eigenen Ansätzen zu leben und zu handeln. Er war ein Mensch, der unter diesem Anspruch extrem gelitten hat, der sich selbst zur Qual wurde. Das zeigt, dass die Philosophie kein Glücksversprechen ist. Die Idee, dass Philosophie glücklich macht, ist meiner Auffassung nach genauso abwegig wie die Idee, dass Sport gesund ist.

Aber auch die anderen Denker gingen ungewöhnliche Wege, die in der heutigen akademischen Welt kaum realisiert werden könnten. Was waren wesentliche Etappen der Denkwege?

Benjamin geht ins Herz der Großstadt, er geht nach Berlin, Paris, Moskau, um die Avantgarde-Bewegungen als das Eigentliche der Zukunft auszumachen. Heidegger sagt, ich würde niemals in die Großstadt gehen, da komme ich an die eigentliche Wahrheit nicht mehr heran. Cassirer findet seinen Traumort in einer Bibliothek der seltensten und erlesensten Art - der Bibliothek Warburg.

Die Bezeichnung "Zauberer" birgt etwas Ambivalentes: Reales wird durch Imagination verdeckt, verzaubert. Das gilt doch auch für die politische Haltung von Heidegger, Benjamin und Wittgenstein?

Das hat besonders mit der schwierigen wirtschaftlichen Lage in dieser Dekade zu tun. In dieser Situation, in der die Menschen zutiefst verunsichert waren, buhlten Faschismus und Kommunismus um die Gunst der Gesellschaft. Es gab einen Populismus und Extremismus, der die Mitte von innen zu zerreißen drohte. Natürlich stehen die Gestalten meines Buches für die Verführungskraft dieser Konstellationen. Benjamin wandte sich dem Kommunismus zu, Heidegger trat später der NSDAP bei, und Wittgenstein war jemand, der von der Demokratie wenig hielt. Bis auf Cassirer - der einzige Demokrat - sind dies Gestalten, die der Idee der Demokratie extrem skeptisch gegenüberstanden.

Ein zentrales Problem, mit dem sich die vier Zauberer des Denkens befassen, ist die Frage: "Was ist der Mensch?" Wie lauten die unterschiedlichen Antworten?

Die Antwort, die sie alle geben, lautet: "Der Mensch ist ein sprechendes Wesen". Die Sprache ist das Fundament und die eigentliche Basis. Heidegger entwickelt seine Philosophie aus einer wesentlichen Beobachtung: Der Mensch ist das einzige Wesen, das durch die Sprache sich die Frage nach seiner eigenen Existenz stellt - und somit nach dem Sinn von Sein. Bei Heidegger geht es so weit, dass er das gesamte Grundvokabular der Moderne wie Subjekt-Objekt oder Realität umstellt und von Dasein, Zeug und Umwelt spricht, das heißt, er findet neue Worte.

Welche Vorstellung hatte Wittgenstein?

Für Wittgenstein ist es so, dass er in einer langen Tradition von Werken steht, die eine Grenze ziehen wollen zwischen den Sätzen in unserer Sprache, die eigentlich sinnvoll sind, und jenen, die sinnlos sind. Das ist eine Tradition, die Hume, Spinoza und Kant verfolgen. Und seine paradoxe Idee ist, wenn man erstmals erkannt hat, was die Bedingungen von sinnvollen Sätzen sind, stellt sich heraus, dass alle Sätze, die die Philosophie äußert, sinnlos sind. Die Sätze dieses Buches sind wie eine Leiter, so Wittgenstein, die man hinaufsteigen muss, um sie dann von sich zu werfen.

Cassirer nahm eine Erweiterung der Sprache vor, wie lautete seine Argumentation?

Cassirer sagt, der Mensch ist ein animal symbolicum, ein Zeichen verwendendes Tier. Wir zeichnen uns dadurch aus, dass wir unserem Sein durch Zeichen, durch Symbole und durch Sprache Sinn und Bedeutung geben. Er sagt, wir müssen nicht nur auf die Sprache der Philosophie schauen, sondern auch auf die Religion, auf den Mythos, auf die Kunst. Das ist ein unglaublich weites Wissen dessen, was Kultur eigentlich ist. Cassirer ist von allen der pluralste, vielfältigste, gebildetste Denker.

Und welche Deutung der Sprache findet sich bei Benjamin?

Benjamin würde sagen, ja, wir sind ein sprechendes Wesen, aber die Fundamente unseres Sprechens sind nicht vom Menschen gemacht; sie sind uns nicht zur Verfügung. Er hat die Idee, dass es nicht wir sind, die diese Dinge benennen, sondern diese Dinge zu uns sprechen. Sie sprechen zu uns in einer quasi göttlichen Sprache, um uns selbst und die Wirklichkeit zu erkennen. So kann man sagen, dass Benjamins Metaphysik tief theologisch geprägt ist.

Sehen Sie Parallelen zwischen der in Ihrem Buch beschriebenen philosophischen Landschaft, die ja auch als eine Reaktion auf politische und wirtschaftliche Krisen zu verstehen ist, und der Gegenwart?

Es ist aus meiner Sicht richtig, dass Krisenzeiten, in denen der Boden unseres Existierens und Denkens in Bewegung gerät, für die Philosophie besonders attraktiv sind. Es gibt ja dieses wunderbare Bild bei Wittgenstein, dass die philosophische Grundsituation eine ist, die besagt, ich kenne mich nicht mehr aus, ich habe mich in einer sehr verwinkelten Stadt verlaufen - und mein Ziel ist es, mit meiner Philosophie eine Karte dieser Stadt zu zeichnen, damit wir wissen, wo wir stehen und uns neu orientieren können.

Deswegen ist dieses Buch mit Blick auf die Gegenwart geschrieben, ohne die Gegenwart explizit zu meinen. Ich glaube, jeder, der das Buch liest, sagt: ja, das ist eine Situation, die der unsrigen ähnlich ist.