Dieses Osterfest ist anders.
Es geht auch darum, dass die Treffen mit der Familie beschnitten sind, die Treffen mit Freunden nicht sein sollen - aber nur "auch". Das nämlich hat es schon früher gegeben. Hand aufs Herz: Wer hat es noch nicht erlebt, dass etwas dazwischenkommt, dass irgendein privater oder beruflicher Grund das österliche Zusammensein torpediert?
Das mag, je nach dem Grund, ein einschneidendes Ereignis gewesen sein. Aber auf die Jahre gerechnet war es wohl kaum eines, das geeignet gewesen wäre, ein Lebensgrundgefühl zu verändern.
Dieses Osterfest ist anders.
Und es wird Auswirkungen haben auf alle Feste, die wir feiern.
Ostern 2020 - das ist das Ostern der Corona-Pandemie. Ostern findet irgendwie statt und zugleich doch auch wieder nicht. Vor allem die begleitenden kirchlichen Bräuche sind ins Fernsehen oder auf Live-Streams verlagert. Brot und Schinken bekommen nur virtuell die Weihwasserspritzer ab. Keine Osterfeuer, keine gemeinsam gefeierte Ostermesse. Statt dem meist zum Ausflug (oder gar zum Kurzurlaub) erweiterten Osterspaziergang ist nun Osterstubenhocken das Gebot der Stunde. Die Frühlingssonne soll nach Möglichkeit nur dann auf den Kopf scheinen, wenn man ihn zum Fenster hinaushält oder in der privilegierten Lage ist, über einen eigenen Balkon oder einen eigenen Garten zu verfügen.
Viele Menschen machen damit eine für sie neue Erfahrung: Sie merken erst jetzt, was ihnen abgeht.
Blick auf den Wertekatalog
Doch genau darin besteht auch eine große Chance. Nämlich die des Innehaltens, des Besinnens auf Wesentliches, auf die Neuordnung des eigenen Wertekatalogs.
Dass man erst durch die Entbehrung das Entbehrte zu schätzen lernt, ist eine alte Weisheit. Die Wahrheit erkennt man freilich erst dann, wenn man selbst die Erfahrung gemacht hat.
Der bulgarische Künstler Christo, dem man den Stempel "Verpackungskünstler aufgedrückt hat, führt das wie kaum ein anderer vor: Er entzieht bekannte Bauwerke dem Blick, indem er sie in Unmengen von Stoff umhüllt. Etwa mit dem Berliner Reichstag verfuhr er so. Nicht nur die Weichzeichnung der Gebäude selbst ist für den Betrachter eine neue Blickerfahrung: Der Verzicht auf den gewohnten Anblick lehrt, genauer und bewusster zu schauen, sobald das Gebäude wieder entpackt ist. (Übrigens ist eine Christo-Aktion wegen der Corona-Pandemie verschoben worden: Die Verhüllung des Pariser Arc de Triomphe hätte in diesem Monat stattfinden sollen. Nun ist 19. September bis 4. Oktober 2020 dafür angesetzt.)
Ein anderes, tragischeres Beispiel: Erst, als die New Yorker Twin Towers nach dem 9/11-Terror eingestürzt waren, wurde jedem bewusst, wie sehr der Blick auf die Stadt durch sie definiert war. Selbst, wer die Skyline nur durch den Vorspann von Krimiserien kannte, begriff mit einem Mal die Bedeutung der Hochhäuser als architektonisches Wahrzeichen. Ob die Türme nun in älteren Filmen oder Serien zu sehen waren oder in neueren eben nicht mehr, spielte keine Rolle.
Manche machen jetzt bereits eine vergleichbare Erfahrung, wenn in Filmen Menschenmassen zu sehen sind oder zwei oder mehrere Menschen eng beieinanderstehen: Unwillkürlich registriert man den fehlenden Zwei-Meter-Sicherheitsabstand.
Fasten lehrt, zu essen
Und um die durch einen Verzicht verursachte Erkenntnis eines Wertes auf ein persönlich erlebbares Feld herunterzubrechen: Nichts lehrt besser, genussvoll zu essen, als ein einwöchiges Fasten.
Ob das nun die Melange im Café am nächsten Eck war oder die Topfengolatsche von der Aida zur Sonntagnachmittags-Jause, der Wochenendausflug oder der Urlaub auf den Malediven: Die ständige Verfügbarkeit von allem hat alles entwertet. Die Feiertage waren längst zu Ausflugs- oder Faulenzertagen umprofanisiert.
Jetzt zwingt die Corona-Krise einen neuen Erfahrungswert auf und damit ein Umdenken. Und dieses Umdenken wird sich auf alle anderen Feiertage auswirken. Denn gerade dadurch, dass die Möglichkeiten heuer beschränkt sind, macht man die Erfahrung, das zu erkennen, was einem selbst wichtig ist: Was geht einem jetzt gerade, zu diesen Osterfeiertagen, am meisten ab?
Bewusstes Erleben
Was es auch ist: Man wird es ab sofort höher bewerten, weil man es nicht mehr als gegeben nehmen, sondern als etwas Besonderes empfinden wird. Mehr oder weniger unwillkürlich wird man den Wertekatalog neu ordnen - oder den vorhandenen bestätigt finden. Doch wäre diese Bestätigung ebenfalls eine Aufwertung allein schon durch das bewusstere Erleben des längst Feststehenden.
Zum ersten Mal macht man am eigenen Leib eine Erfahrung, die die meisten vergleichbar nur aus den Erzählungen der Eltern, der Großeltern und Ur-Großeltern kannten: die Entbehrung des Selbstverständlichen. War es in früheren Generationen durch Krieg, Misswirtschaft und diktatorische Maßnahmen verursacht, ist jetzt von eingeschränkter Versorgung mit Nahrungsmitteln oder Medikamenten oder akuter materieller Not kaum die Rede. Die Klagen mögen berechtigt sein, finden aber auf vergleichsweise hohem Niveau statt. Die äußere Situation ist damit eine andere als in den Kriegs- und Zwischenkriegszeiten. Es geht aber nicht um die objektiven Fakten, sondern um das persönliche Erleben.
Diese Erfahrung des Corona-Osterns 2020 wird nicht auf die jetzigen Feiertage beschränken. In Zukunft wird man Feiertage, ob Weihnachten, ob Pfingsten, ob Reformationstag, ob in ihrem religiösen Gehalt längst verblasste Feiertage wie Mariä Himmelfahrt oder Fronleichnam anders bewerten, übrigens auch den eigenen Geburtstag, weil man sie, aufgrund der Oster-Entbehrung von 2020, bewusster erleben wird.
So bedrückend und verunsichernd die Corona-Krise ist: Sie ist auch eine Chance. Wieder einmal geht es nämlich um die Sinnfrage: Was kann jeder Einzelne für sich daraus ableiten? Sinn liegt schließlich nicht nur im Zuwachs materieller Güter, wie Sinn ja überhaupt nicht objektivierbar ist. Frei nach Viktor Frankl: Sinn ist alles, was jeder individuell bereit ist, als Sinn zu erfassen. Gerade solche Krisen-Feiertage wie dieses Osterfest nötigen, sich solchen Fragen nach Werten und Sinn zu stellen.
Keine Angst - was nach gedankenschweren Umwälzungen klingt, kann perfekt schmecken. Denn wenn einem das Leben Zitronen gibt, macht man am besten Limonade daraus. Gut soll sie schmecken - und in diesem Sinn, sozusagen justament: ein frohes Osterfest!