Wien. "1966 gab es im Prater mehrere Gründe zum Feiern", erzählt Robert Kaldy-Karo, der Direktor des Wiener Circus- und Clownmuseums, 50 Jahre später. "Zum einen 200 Jahre Prater, zum anderen galt es, dem 100. Geburtstag der legendären Löwenbändigerin Henriette Willardt zu gedenken, besser bekannt als ‚Miss Senide‘."

Henriette Willardt kam 1866 als Tochter reisender Schausteller zur Welt, wodurch ihre Kindheit eine unruhige war. Zuerst bei Verwandten in Halle an der Saale, wuchs sie danach in der Steiermark auf und besuchte eine Mädchenschule in Bruck an der Mur. Mit 15 Jahren zog sie zu ihrer Mutter Emma Willardt, die damals im Wiener Prater ein Schaugeschäft betrieb, das auch "Schnellfotos" im Angebot hatte.

Kaldy-Karo: "Das war damals eine Sensation. Die Technologie besorgte sie sich aus Paris und sie war die erste Praterunternehmerin, die Schnellfotos anbieten konnte. Die noch heute erhaltenen Fotos der jungen Henriette hat Emma Willardt in ihrer Praterhütte gemacht. Die Mutter führte neben ihrem Schaubudengeschäft übrigens ein sehr bürgerliches Leben."

Die Schaubude und der Hausgarten waren ihr Stolz, die Wohnung befand sich direkt hinter dem Praterunternehmen. Ein Freund der Familie betrieb im Prater eine kleine Menagerie, die die tierliebende Henriette Willardt regelmäßig besuchte. Ohne Wissen ihrer Mutter stieg sie 1883 in den Löwenkäfig, um die Tiere zu streicheln und mit ihnen zu spielen.

Als Emma Willardt das bemerkte, eilte sie zu ihrer Tochter, die sich allerdings standhaft weigerte, das Gehege zu verlassen. Erst als sie ihrer Mutter die Zusage abgerungen hatte, selbst Raubtiere erwerben zu dürfen, stieg sie aus dem Käfig - so zumindest die Legende, schmunzelt Kaldy-Karo: "Das ist eine der typischen Künstleranekdoten mit zweifelhaftem realen Hintergrund, die in den verschiedensten Ausschmückungen ihre Runden machten. Mal waren es Löwen, dann wieder Wölfe im Käfig, da wurde auch von der Presse gerne variiert."

Was aber tatsächlich stimmen sollte: Henriette Willardt reiste mit ihrer Mutter nach Hamburg zum Tierhändler Möller, um dort zwei Berberlöwen, einen Bären und einen Leoparden zu kaufen. In Wien baute sie am Praterrand einen simplen Holzzaun für ihre neuen "Haustiere" und trainierte fast ein halbes Jahr lang unermüdlich, und zwar mit der sogenannten "zahmen Dressur": Dabei ging es nicht darum, dass die Peitsche möglichst laut knallt und das Tier bestraft wird, sondern um Belohnung bei Gehorsam.

Mit Bestien im Käfig

Die Mutter nahm das Potenzial ihrer Tochter zur Kenntnis und daraufhin Kontakt zu Zirkusdirektor Ernst Jakob Renz in Berlin auf, um sie zu vermitteln. Henriette Willardt nannte sich damals noch "Fräulein Henriette", doch Renz war der Name zu gewöhnlich und er schlug dem jungen Mädchen den Künstlernamen "Miss Senide" vor.

Am 12. Dezember 1883 debütierte die 17-jährige Dompteurin kühn und tapfer im Renzbau Berlin und wurde über Nacht zur Sensation. Die "Berliner Zeitung" vom 14. Dezember 1883 schreibt: "Im Circus Renz produzierte sich vorgestern die jugendliche Miß Senide zum ersten male. Die junge Dame betrat unerschrocken den Käfig, in welchem Löwen und Bären miteinander vereinigt waren und ließ diese Bestien zahlreiche Kunststücke ausführen, die eine in der Tat seltene Unterordnung des tierischen Willens unter den menschlichen bewiesen. (...)

Auch der Löwe legt ihr vertraulich die Tatzen auf die Schultern und empfängt ein Stück Fleisch aus ihrem Munde." Eine andere waghalsige Erfolgsnummer trug den Titel "Le diner africain", bei dem sie einem Raubtier ein Stück Fleisch wieder aus dem Rachen riss.

Vom Prinzen gerissen

Mit ihrer Mischung aus halsbrecherischem Können und wilder Exotik flogen der jungen Dame in knapper Korsage die Herzen der Zuschauer zu, so Kaldy-Karo: "Natürlich war sie in ihrem engen Kostüm auch ein Sexobjekt für die männlichen Zuschauer, die sicher nicht nur schaudernd die Raubtiere betrachteten." So tourte sie 1885 erfolgreich durch Portugal, Spanien, Frankreich und Belgien, doch im Jahr darauf wurde sie in Paris von ihrem Lieblingslöwen Prinz schwer verletzt.

Aus einem Bericht wird Senide zitiert: "Bewusstlos war ich nicht, denn ich erinnere mich sehr gut, wie des Löwen Augen wie Phosphor über mir leuchteten. Auf einmal veränderte sich sein Gesicht. Er, der noch eben so wild und drohend schien, leckte mir bittend das Gesicht und schmiegte sich an mich. Da stürzten mir die Thränen aus den Augen. Ich legte meine Arme um ihn und küsste ihn, denn der arme ‚Prinz‘ sah sein Vergehen ein und bat um Verzeihung. Und dabei sah er mich so flehend an und schmiegte sich so Vergebung suchend an mich."

Das war nicht der einzige Arbeitsunfall, wie im "Zirkusjournal" 1/2007 steht: "Auch in Dublin passierte ein Unfall: Madame Senide führte wie immer ihre ‚Sensationsnummer‘ durch und steckte ihren Kopf in den Rachen des Löwen. Plötzlich erlosch das elektrische Licht in der Manege, und durch diese überraschende Dunkelheit klappte der Löwe seine Kinnlade zusammen."