Berlin/Kiew. Es war eine Aussage, mit der Andrij Melnyk international für Aufsehen sorgte. Der Botschafter der Ukraine in der Bundesrepublik Deutschland hatte in einem Interview im Deutschlandfunk am Donnerstag klargemacht, dass sein Land die Wiederanschaffung von Atomwaffen erwägt - falls es nicht Mitglied der Nato wird. "Entweder wir sind Teil eines Bündnisses wie der Nato und tragen auch dazu bei, dass dieses Europa stärker wird, (...) oder wir haben eine einzige Option, dann selbst aufzurüsten", sagte der Diplomat aus dem westukrainischen Lemberg. Man werde dann "vielleicht auch über einen nuklearen Status" nachdenken müssen.
Über 100.000 Soldaten stationiert?
"Wie sonst können wir unsere Verteidigung garantieren?", fragte der Botschafter angesichts des Umstandes, dass Russland derzeit an der Grenze zu den Separatistengebieten und auf der Krim sein Militär auffahren lässt. Glaubt man ukrainischen Angaben, soll Moskau mittlerweile über 100.000 Soldaten entlang der Grenze stationiert haben. Der Kreml spricht von Manövern.
Schon lange bedauert man in Kiew, dass sich die Ukraine 1994 gemeinsam mit Weißrussland und Kasachstan bereit erklärte, ihre von der Sowjetunion geerbten Atomraketen an Russland abzugeben.
Ignorierte Garantien
Viele Ukrainer sind der Ansicht, dass eine atomare Bewaffnung des Landes Russland, den übermächtigen großen Bruder, 2014 von seiner Intervention im Donbass und auf der Krim abgehalten hätte. Die Sicherheitsgarantien, die die Ukraine im Budapester Memorandum vor mehr als 26 Jahren für die Abgabe der Atomwaffen von Russland erhielt - nämlich ihre Staatsgrenzen zu achten -, waren im Konfliktfall nichts wert. Da erscheint ein Beitritt zum westlichen Militärbündnis Nato vielen in Kiew heute als einziger Ausweg aus dem Sicherheitsdilemma.Der gilt allerdings als unwahrscheinlich: Ein Staat mit Grenzkonflikten (wie die Ukraine) darf laut Nato-Statut nicht aufgenommen werden. Außerdem sind maßgebliche Nato-Staaten wie Frankreich, Italien und Deutschland gegen einen Beitritt der Ukraine. Ein solcher würde schließlich Russland, das historisch mit der - in weiten Teilen russischsprachigen - Ukraine eng verwoben ist, mehr als nur provozieren.
Türkei als Fürsprecher Kiews?
Doch die Ukraine hat innerhalb der Nato-Staaten auch Fürsprecher. Dazu gehören neben den traditionell russlandkritischen Mitgliedsländern wie Polen, den baltischen Staaten oder Rumänien auch Großbritannien und Kanada. Und möglicherweise auch ein Staat, der in den letzten Jahren selbst mit dem Kreml geflirtet hat: die Türkei. "Seit Monaten gibt es eine auffällige Annäherung zwischen Kiew und Ankara, auf die Moskau mit Argwohn blickt", sagt der Politologe Alexander Dubowy im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".
Zwar sind sich die historischen Rivalen Russland und Türkei in den letzten Jahren näher gekommen, bin hin zum Kauf russischer Rüstungsgüter durch Ankara. Das Interesse, gemeinsam den westlichen Hegemon in die Schranken zu weisen, verbindet.
Sorgenfalten im Kreml
Dennoch kommt man sich - was wohl schwerer wiegt - in Nordafrika, Syrien und im Südkaukasus in die Quere. "Die Türkei betrachtet Syrien als Zone ihrer privilegierten Interessen. Russland ist dort eingedrungen und hat damit Ankara herausgefordert. Umgekehrt griff die Türkei mit Söldnern auf aserbaidschanischer Seite im Südkaukasus ein, einer Region, die für Russland sehr wichtig ist", erläutert Dubowy. "Jetzt befürchtet man im Kreml, dass die Türkei eine Art Lobbyist für einen Nato-Beitritt der Ukraine werden könnte", sagt der Experte.
Ein Warnschuss Moskaus?
Diese Befürchtungen könnten auch ein Grund für eine Maßnahme Moskaus vom vergangenen Montag sein: Wegen der Corona-Pandemie, so hieß es zumindest offiziell, schränkte Russland den Flugverkehr mit der Türkei stark ein. Dort gibt es derzeit zwar besonders viele Neuinfektionen. Dennoch könnte die Maßnahme auch ein Warnschuss des Kremls Richtung Ankara sein - das mit dem guten Verhältnis zu Kiew im Machtpoker mit dem Kreml ein Ass mehr im Ärmel hat.
Inmitten der wachsenden bilateralen Spannungen zwischen Russland und der Ukraine hat zudem der russische Inlandsgeheimdienst FSB einem Medienbericht zufolge einen ukrainischen Diplomaten in Sankt Petersburg festgenommen. Der Diplomat soll versucht haben, an geheime Informationen aus den Datenbanken der russischen Strafverfolgungsbehörden zu gelangen, meldete die Nachrichtenagentur Interfax unter Berufung auf den FSB am Samstag. Eine Stellungnahme der Ukraine lag zunächst nicht vor.