Kreml-Chef Wladimir Putin trauert kurz vor dem 30. Jahrestag des Zusammenbruchs der Sowjetunion einmal mehr dem verlorenen Großmachtstatus nach. 40 Prozent seines historischen Gebiets habe Russland damals verloren, klagt er im russischen Staatsfernsehen. Am 25. Dezember wurde die Sowjetflagge am Kreml eingezogen. Präsident Michail Gorbatschow trat nach gescheiterten Reformversuchen zurück. Der 26. Dezember 1991 gilt offiziell als das Ende des Staates.

Von einer "Tragödie" spricht Putin zum Jahrestag in der TV-Dokumentation. "Das, was wir uns in 1.000 Jahren erarbeitet haben, war zu einem bedeutenden Teil verloren", meint er mit Blick auf das Russische Imperium, aus dem nach der Oktoberrevolution von 1917 fünf Jahre später die Sowjetunion mit ihren 15 Republiken hervorging.

Der Kreml-Chef erzählt, dass auch der Rohstoffgroßmacht Russland nach dem Ende der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) der Zerfall gedroht habe. Aber Putin hat in seinen mehr als 20 Jahren an der Macht nicht nur alles getan, um das flächenmäßig größte Land der Erde zusammenzuhalten. Er hat auch unter Gorbatschow gewonnene Freiheiten massiv eingeschränkt, und zuletzt wurden die Strukturen des Oppositionellen Alexej Nawalny zerschlagen.

Bürger haben dunkle Seiten vergessen

Eine Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM zum 30. Jahrestag des Endes der UdSSR zeigt, dass die Menschen sich vor allem an soziale Sicherheit, Stabilität und den Großmachtstatus im Kommunismus erinnern. Die dunklen Seiten hingegen - wie die Mangelwirtschaft mit leeren Regalen und langen Warteschlangen sowie die politische Verfolgung - seien bei vielen vergessen. Der russische Vizepremier 1991, Gennadi Burbulis, wies darauf hin, dass die UdSSR ein totalitäres Imperium gewesen sei, das auf Terror gegründet worden war. Bei einer Veranstaltung in Wien im November stellte er fest: "Der Kollaps des Imperiums war historisch nötig." Als "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnete hingegen Ex-KGB-Agent Putin den Zusammenbruch der Sowjetunion.

Vor allem seit der Annexion der ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim 2014 steht er im Verdacht, das alte Imperium wiederherstellen zu wollen. Die US-Außenpolitikerin Victoria Nuland meinte, es gebe die Befürchtung, dass der 69 Jahre alte Putin als Vermächtnis versuchen könnte, die "Sowjetunion wieder zu errichten". Nuland bezog sich vor allem auf den russischen Truppenaufmarsch nahe der ukrainischen Grenze. USA und Nato werfen Russland vor, einen Überfall auf die Ukraine zu planen.

Das weist der Kreml entschieden zurück. Moskau fordert jedoch ein Ende der Nato-Osterweiterung Richtung Ukraine, das auch EU-Beitrittsambitionen hegt. Die USA kontern, alle Länder hätten das Recht, ihre Zukunft und Außenpolitik ohne Einmischung von außen zu bestimmen. Ab Jänner erwartet Russland Gespräche mit den USA über die eingeforderten Sicherheitsgarantien. Bereits jetzt hat die Nato die Einsatzbereitschaft ihrer schnellen Eingreiftruppe erhöht.

Gefangen in der Vergangenheit

Der Westen blickt aber nicht nur mit Sorge auf die Ukraine. In Belarus ist die Krise um Machthaber Alexander Lukaschenko ungelöst. Die Sanktionen des Westens treiben die Ex-Sowjetrepublik in die Arme Russlands. Lukaschenko betont, Belarus bleibe unabhängig. Doch ein lange Zeit nur auf dem Papier geführter Unionsstaat beider Länder nimmt zunehmend Konturen an. Es gehe, so Lukaschenko, um zwei eigenständige Staaten, die auf gemeinsamer wirtschaftlicher Grundlage existierten, die eine Außen- und Verteidigungspolitik und "faktisch eine einheitliche Armee" hätten.

Der russisch-belarussische Unionsstaat gilt nur als ein Projekt Putins. Seit Jahren versucht der Kreml-Chef, die von Russland dominierte Eurasische Wirtschaftsunion mit Leben zu füllen. Mehrere frühere Sowjetrepubliken sind dort Mitglied - wie auch in der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gegründeten Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Echte Inhalte oder gar eine Konkurrenz für die EU sind hier aber nicht in Sicht. Und die GUS hat im Laufe der Jahre zwei Mitglieder verloren, Georgien und die Ukraine.

Unter Putin lässt Russland vor allem geopolitisch die Muskeln spielen. Doch sehen Kritiker den Kreml-Chef zu sehr in der Vergangenheit gefangen - und nicht willens, sich großen Zukunftsaufgaben wie etwa dem Schutz des Klimas zu stellen. Die Rohstoffmacht setzt weiter vor allem auf Einnahmen aus dem Öl-, Gas- und Kohleverkauf. Der britische Experte Barry Buzan schreibt in einem Aufsatz für die Moskauer Zeitschrift "Russland in der globalen Politik", das Land habe es versäumt, sich zu erneuern.

Russland sei im Vergleich zum Nachbarn China wirtschaftlich schwach - und könne heute wie früher allenfalls als hochgerüstete Atommacht den Status verteidigen, meint Buzan. Das Riesenreich habe "bedeutendes Potenzial" als Aggressor etwa auch in der Cyberwelt, besitze aber keine ökonomischen und ideologischen Einflussinstrumente mehr. Darüber, empfiehlt Buzan, sollte sich das Land drei Jahrzehnte nach dem Ende der Sowjetunion Gedanken machen.(dpa/red)