Dass es zu einer Eskalation des Ukraine-Konflikts kommen wird, ist für den Innsbrucker Politologen Gerhard Mangott "sehr wahrscheinlich": Das Risiko einer militärischen Eskalation schätzt er als "relativ hoch" ein, wie er gegenüber der Austria Presseagentur sagte.
An eine großflächige Invasion Russlands in der Ukraine glaubt er aber nicht. "Denkbar" sei indes, so der Russland-Experte, dass durch ein militärisches Manöver das derzeit von Separatisten kontrollierte Gebiet in der Donbass-Region ausgeweitet werden könnte. Als "kühn", aber denkbar, bezeichnete er die Herstellung einer Landbrücke zwischen dem Donbass und der Krim. Auch eine "rüstungsmilitärische Eskalation" – etwa die Stationierung von nuklear bestückbaren Überschallraketen an der Westgrenze Russlands oder dem Donbass – oder ein Cyberangriff – seien mögliche Arten, wie Russland den Konflikt eskalieren könnte.
Kein "massiver" Angriff
Diese Einschätzung teilt auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Ein "massiver" russischer Angriff auf die Ukraine sei "nicht das wahrscheinlichste Szenario", so Borrell. Es gebe jedoch "andere Angriffsmöglichkeiten, zum Beispiel Cyberangriffe". Zuletzt waren die Websites mehrerer ukrainischer Ministerien attackiert worden.
Zwar war die neue deutsche Außenministerin Annalena Baerbock am Dienstag in Moskau und ist dort mit ihrem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow zusammengetroffen. "Entscheidend" sind laut Mangott dieser Tage aber die Gespräche zwischen den USA und Russland – obwohl es um die europäische Sicherheitsarchitektur geht. Denn Russland sehe Europa "nicht als eigenständigen Akteur, sondern als Vasallen der Vereinigten Staaten", so Mangott. Diese Sicht sei "nicht ganz falsch", da sich die Europäer noch immer auf die Sicherheitsgarantie der USA verlassen würden.
In Washington warnt man unterdessen vor einem russischen Einmarsch und will den Preis für einen solchen Schritt möglichst in die Höhe treiben. US-Außenminister Antony Blinken wird nach Kiew reisen, um am Mittwoch Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj zu treffen. Am Freitag folgt ein Treffen mit Lawrow in Genf.
Nachdem die Nato zuletzt den russischen Forderungskatalog abgelehnt hat – unter anderem die Garantie, dass die Ukraine dem westlichen Bündnis nie beitreten wird – kann Putin laut Mangott nun nicht zur Tagesordnung übergehen. Damit würde der Kremlherr an Ansehen verlieren – und zwar "sowohl nach innen, als auch nach außen". "Das ist etwas, was er vermeiden möchte", ist sich der Politologe sicher. Seiner Meinung nach würden jedoch die Kosten einer militärischen Eskalation den Nutzen einer solchen übersteigen. Unter anderem schwere Wirtschafts- und Finanzsanktionen, Exportverbote auf gewisse Güter oder der Ausschluss aus dem Bankeninformationssystem Swift.
Nicht nur Briten schicken Waffen
Nützen würde Putin zum einen die Gelegenheit einer militärischen Machtdemonstration, zum anderen aber auch eine mögliche politische Destabilisierung der Ukraine. Vor allem aber könnte der russische Machthaber durch einen militärischen Konflikt verdeutlichen, dass "die westlichen Versprechen der territorialen Integrität und Souveränität im Ernstfall nichts bedeuten". Laut Mangott wird die Nato die Ukraine jedenfalls nicht direkt mit Streitkräften unterstützen, "die ukrainische Seite wird auf sich selbst angewiesen sein", so die Prognose Mangotts.
Die britische Regierung hilft Kiew immerhin mit Defensivwaffen. Am Montagabend hat London ein Militärflugzeug mit Panzerabwehrwaffen in die Ukraine geschickt. Man habe entschieden, der Ukraine derartiges Gerät zukommen zu lassen, bestätigte der britische Verteidigungsminister Ben Wallace. Britische Armeeangehörige sollen ukrainisches Personal in einem Schnellkurs an dem Waffensystem ausbilden. Wallace machte keine Angaben zum Typ oder der Anzahl der gelieferten Waffen. Er sagte lediglich, es handle sich "nicht um strategische Waffen und sie stellen keine Gefahr für Russland dar. Sie sind zur Selbstverteidigung gedacht." Die Waffen hätten nur eine kurze Reichweite.
Die USA stellen vor allem Radargeräte zur Artillerieortung, Aufklärungsdrohnen, Geländewagen aber auch Panzerabwehrraketen, Scharfschützengewehre und Küstenpatrouillenboote zur Verfügung. Die Türkei liefert Kampfdrohnen und demnächst auch Kriegsschiffe. Estland überließ Kiew Hunderte ausgemusterte Pistolen des sowjetischen Typs Makarow. Aus Polen, Bulgarien, Montenegro und Tschechien soll vor allem Munition für Waffen sowjetischer Bauart in die Ukraine gelangt sein.
Scholz schließt Sanktionen gegen Nord Stream 2 nicht aus
Moskau hat die spontane Unterstützung aus London umgehend kritisiert: "Das ist äußerst gefährlich und trägt nicht zum Abbau der Spannungen bei", so Kreml-Sprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge. Moskau sei besorgt, dass das Nachbarland Ukraine von immer mehr Waffenlieferanten versorgt werde. Oft handle es sich dabei nicht nur um defensive Waffen.
Deutschland hat bereits klar gemacht, dass man keine Waffen schicken werde. Mit der Ostseepipeline Nord Stream 2 hat Berlin aber ein Druckmittel in der Hand. "Natürlich kann Nord Stream 2 nicht kommen, wenn Russland die Ukraine angreift", so Deutschlands ehemaliger Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) im "Tagesspiegel". "Eigene Stärke in Verhandlungen bekommt man nur, wenn man der russischen Drohung eines militärischen Einmarsches in der Ukraine ernsthaft etwas entgegensetzt." Der deutsche Kanzler Olaf Scholz (ebenfalls SPD) schloss am Dienstag nicht aus, dass zu den angedrohten wirtschaftlichen, finanziellen und politischen Konsequenzen im Falle einer Aggression auch die Ostseepipeline Nord Stream 2 gehören könnte. Damit schwenkt er auf die Linie der Grünen. Noch im Dezember nannte der Kanzler Nord Stream 2 ein rein privatwirtschaftliches Projekt, über das "ganz unpolitisch" entschieden werde, berichtete die "FAZ".
Außenministerin Baerbock hat in Moskau nach ihrem mit Spannung erwarteten Treffen mit Lawrow gemahnt, auf Drohungen gegen die Ukraine zu verzichten und grundlegende Werte in Europa einzuhalten. "Wir haben keine andere Wahl, als unsere gemeinsamen Regeln zu verteidigen, auch wenn dies einen hohen wirtschaftlichen Preis hat", so Baerbock. Zugleich betonte die Grünen-Politikerin, dass Deutschland zu Vereinbarungen bereit sei, die allen Sicherheit bringen müssten. Auch hat sie in Moskau für eine rasche Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen im Ukraine-Konflikt ausgesprochen.
Wenig Interesse an Berliner Angebot für Friedensgespräche
Dazu solle ein nächstes Treffen im Normandie-Format zusammenkommen – also auf Vermittlung Deutschlands und Frankreichs mit der Ukraine und Russland, sagte Baerbock in Mokskau wie bereits tags zuvor in Kiew. Lawrow zeigte daran wenig Interesse, er meinte, dass Russland Hilfe der USA bei einem Konflikt willkommen heiße. (red, apa, afp, dpa, reu)