Der Umstand, dass die Gespräche zwischen Russland und dem Westen zu keinem Ergebnis geführt haben, lässt Europa vor einem großen Krieg in der Ukraine zittern. Im Westen fürchtet man, dass Russlands Präsident Wladimir Putin irgendwann in den kommenden Wochen, vorzugsweise solange der Boden noch gefroren und hart ist, seine Panzer Richtung Ukraine in Marsch setzen lässt - im Frühjahr wäre ein rasches Weiterkommen für die russischen Stahlkolosse nämlich schwieriger. Und Schnelligkeit könnte für Russland bei einem solchen Szenario durchaus von Vorteil sein, ganz so wie ein Angriff an mehreren Fronten zugleich.
Denn obwohl die ukrainischen Truppen nach Jahren des Krieges in der Ostukraine erfahren und gut gedrillt sind, zeigen sich Militärexperten überzeugt, dass Kiew einem russischen Zangenangriff vom Donbass, von der langen russisch-ukrainischen Grenze, der Krim und möglicherweise auch von Belarus aus nicht lange standhalten könnte. Dass auch Weißrussland theoretisch für russische Truppen ein Aufmarschgebiet gegen Kiew werden könnte, wurde klar, als Russland verlautbaren ließ, dass es 13.000 Soldaten nach Belarus verlegt hat - für eine von 10. bis 20. Februar stattfindende Militärübung, wie es hieß. Auch Weißrusslands diktatorisch regierender Staatschef Alexander Lukaschenko hat bereits offen angekündigt, in einem russisch-ukrainischen Krieg an der Seite des Kremls zu stehen.
Eine Besetzung der gesamten oder eines Großteils der Ukraine wäre aber wohl ein Extremszenario, das niemand will - auch der Kreml nicht. Zwar hat Russland aus Kiew sogar bereits Botschaftspersonal abgezogen. Das ließe den Schluss zu, dass ein Angriff unmittelbar bevorsteht. Manche westliche Beobachter vermuten allerdings, dass Präsident Putin damit nur blufft, um seine Drohkulisse möglichst real erscheinen zu lassen und vom Westen seine geforderten Sicherheitsgarantien zu bekommen. Schließlich wäre der Preis, den Russland für einen Angriff zahlen müsste - neue Sanktionen, womöglich ein Ende der Pipeline Nord Stream 2, der Ausschluss aus dem internationalen Finanztransaktionssystem Swift und nicht zuletzt die wohl beschleunigte Einbindung der Ukraine in westliche Sicherheitsstrukturen - enorm hoch.
Schneller Sieg, aber dann?
Andererseits weisen Beobachter auch darauf hin, dass Putin jetzt unter Handlungszwang steht. Er hat weitreichende Forderungen gestellt und bis jetzt nur eines dafür bekommen - Gespräche auf Augenhöhe mit den USA. Herausgekommen ist bei diesen aber bekanntlich nichts, und der Kreml hatte bereits vor den Verhandlungen in Genf, Brüssel und Wien angekündigt, nicht ewig reden zu wollen. Es könnte also für Moskau durchaus die Zeit des Handelns gekommen sein.
Was nicht heißen muss, dass Russland die gesamte Ukraine okkupiert. Zwar brachte Putin in einem Geschichtsaufsatz im Sommer zum Ausdruck, dass er Russen und Ukrainer wörtlich als "ein Volk" ansieht. Dem Kreml-Chef ist aber klar, dass er mit dieser Sichtweise bei den meisten Ukrainern auf Widerwillen stößt: Die 30 Jahre nach der Unabhängigkeit und die in dieser Zeit bewusst betriebene Ukrainisierungspolitik haben Spuren hinterlassen. Und Putin hatte selbst einen gewichtigen Anteil am ukrainischen "Nation Building": Die Annexion der Krim und der Krieg im Donbass haben viele zuvor unpolitische, oft auch russischsprachige Ukrainer politisiert und gegen den Kreml mobilisiert.
Ein Sieg könnte in einer Art Blitzkrieg zwar schnell erzielt sein, man hätte es dann aber mit einer renitenten Bevölkerung zu tun, die im für Russland schlimmsten Fall auch lang anhaltenden militärischen Widerstand leisten würde. In der Westukraine, wo fast ausschließlich ukrainisch gesprochen und nationalistisch gedacht sowie gewählt wird, wäre ein militärischer Widerstand fast sicher: Schließlich hatten noch zu Sowjetzeiten ukrainische Partisanen, oft ehemalige Nazi-Kollaborateure, bis in die Mitte der 1950er Jahre hinein gegen die verhassten Russen gekämpft. Ihre Haltung hat sich in der Ukraine seit dem Maidan Richtung Osten ausgebreitet. Die Köpfe der Ukrainer zu gewinnen, würde für den Kreml zu einer fast unmöglichen Angelegenheit werden.
Gut möglich also, dass Moskau sich bescheidenere Ziele setzt, etwa eine Landbrücke zwischen dem Donbass und der Krim zu errichten, auch um die Wasserversorgung der Halbinsel sicherzustellen. Ebenfalls denkbar wäre, dass der Kreml in der Ostukraine die Masken fallen lässt, indem man offiziell russische Truppen in das Konfliktgebiet verlegt - zur Friedenssicherung, wie es dann wohl heißen wird.
Oder man konzentriert sich Kiew, aber auch dem Westen gegenüber auf alle Mittel, die ein moderner Kalter Krieg hergibt. Dass Russland dabei zu Cyberattacken in der Lage ist, ist schon lange bekannt. Erst vor kurzem haben mutmaßlich russische Hacker ukrainische Regierungsseiten lahmgelegt und darauf die Drohung "Fürchtet Euch und erwartet Schlimmeres" hinterlassen.
Flughafen lahmgelegt
Solche Aktionen sind zwar Machtdemonstrationen, die zeigen, wozu man in der Lage ist. Sie richten allerdings nur wenig Schaden an. Anders war das am 23. Dezember 2015, als in der westukrainischen Stadt Iwano-Frankiwsk 230.000 Menschen für Stunden ohne Strom waren - Hacker hatten die Versorgung gekappt, die Ukraine vermutete einen russischen Cyberangriff. Und 2017 legten Angreifer Systeme des Kiewer Flughafens und der U-Bahn lahm. Im Atomkraftwerk Tschernobyl fiel die Strahlenmessung aus, und internationale Unternehmen konnten nicht mehr auf wichtige Systeme zugreifen. Bei dem Hackerangriff mit der Schadsoftware "NotPetya", für den Russland verantwortlich gemacht wird, verlor allein die Reederei Maersk mehr als 300 Millionen US-Dollar.
Es wäre also möglich, dass ein möglicherweise kommender Angriff des Kremls nicht mit Panzerrohren, Soldaten, Gewehren und Drohnen, sondern digital vorgetragen wird. Die Frage ist nur, ob sich Attacken im Cyberspace dafür eignen, um in der Öffentlichkeit seine Macht ausreichend zu demonstrieren. Und damit seinen Willen durchzusetzen, was im Falle Russlands heißt: einen Nato-Beitritt der Ukraine zu verhindern.