Welche Dynamiken wirken in einer Gesellschaft wie der ukrainischen, die von einem mächtigen Feind angegriffen wird? Wie verändert sich das menschliche Miteinander? Und was entscheidet darüber, ob Flüchtlinge als willkommen angesehen werden oder nicht? Der Soziologe Sérgio Costa, Professor am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin, war Gast beim 11. Symposion Dürnstein und hat mit der "Wiener Zeitung" gesprochen.

"Wiener Zeitung": Viele Ukrainer in Mariupol, Chrarkiw, Cherson, sind richtiggehend von ihrer Auslöschung bedroht. Wie verändert sich in einer derartigen Extremsituation das Miteinander? Da geht es doch nur noch um die Frage: Wie überleben wir?

Sérgio Costa: Bis zu einer gewissen Grenze wächst in derart schwierigen Situationen die Solidarität. Wenn aber Essen und Unterkunft für alle knapp werden, dann geht Menschlichkeit tendenziell wieder verloren. Im Fall Kiew kann man sich ein gutes Miteinander vorstellen, aber in Mariupol ist die Lage so extrem . . .

. . . in Kiew gibt es noch Spielraum, die Stadt ist nicht völlig eingekesselt, es sind Vorräte vorhanden.

Auch hier gibt es in der Bevölkerung Konflikte, aber diese werden durch ein höhergestelltes Ziel, gemeinsam aus dieser Krise zu kommen, die Invasoren zu vertreiben, überwunden. Existierende Konflikte werden hintangestellt - das sieht man auch in der Zustimmung, die Präsident Wolodimir Selenskyj erfährt. Da wird dann ein neues Miteinander zwischen Gruppen entdeckt, Gruppen, die vorher gar nicht miteinander geredet haben.

Interessant ist unser derzeitiger Umgang mit Flüchtlingen. Da war Österreich immer sehr skeptisch, jahrelang wurde in der EU um Aufnahmequoten gestritten. Jetzt erleben wir etwas ganz anderes. Die polnische Regierung spricht im Fall der Ukraine nicht von Flüchtlingen, das sind jetzt laut Warschau "unsere Gäste". Was ist da passiert?

Hier muss man vielleicht drei Ebenen unterscheiden: Da ist die Identifizierung mit den Ukrainern, da ist die soziale, kulturelle und geografische Nähe. Etwa bei Programmierern in Berlin, die dann in der Ukraine programmieren, zusammen mit Ukrainern arbeiten. Oder in der Techno-Szene. Ich kann da von Berlin sprechen, weil ich dort diese Verbindungen ganz konkret gesehen habe. Da ist die gemeinsame Erfahrung, eine gemeinsame ästhetische Präferenz. Hier entsteht soziale Nähe.

In Deutschland gab es die Debatte, wieso es nicht die gleiche Reaktion bei Flüchtlingen aus dem Jemen oder Syrien gegeben hat. Sind das rassistische Präferenzen? Ich würde das nicht so einstufen. Dass die Solidarität bei Menschen, wo man die Ähnlichkeiten schneller sieht als die Differenzen, größer ist, ist zu erwarten. Die zweite Ebene ist die der Solidarität der Zivilgesellschaft. Und die dritte Ebene ist dann politischer Opportunismus. Das sieht man in Großbritannien, das sieht man in Polen. Ich will das nicht pauschalieren und sagen, alle Politiker, die sich solidarisieren, tun das aus opportunistischen Gründen. Viele aber schon. Politiker, die immer gegen Migration und Flüchtlinge waren, sind jetzt dafür. Ich denke nicht, dass sie die Ukrainer als "Gäste" sehen. Sie sehen vielmehr eine Gelegenheit, sich zu profilieren. Als Politiker, die doch eine gewisse Empathie zeigen können . . .

. . . die dann auch Front machen gegen den gemeinsamen Feind, Wladimir Putin. Das kommt gut an, alle haben jetzt Angst vor ihm.

Da wurde eine Unterscheidung zwischen Bösen und Guten so deutlich gemacht wie selten in der Geschichte. Da wurde die Trennungslinie so deutlich gemacht, wer auf der richtigen und wer auf der falschen Seite ist, dass Politiker, die grundsätzlich gegen Migranten sind, diese Position nicht aufrechterhalten können.

Ist es so, dass man Menschen überfordert, wenn Flüchtlinge als "zu fremd" wahrgenommen werden?

Genau. Und deshalb waren im Fall Syrien Erfahrungen, die die Ähnlichkeit hervorgehoben haben, sehr wichtig. Als Beispiel: zusammen kochen. Da gab es Initiativen in Deutschland, dass man mit Geflüchteten zusammen gekocht hat. Es ist sogar ein Kochbuch entstanden. Wo man sich in einer ganz alltäglichen Situation getroffen und gefunden hat. Da ist dann diese soziale Distanz überwunden worden durch eine Erfahrung, die alle teilen.

Verständnis ist also möglich, aber es ist ein längerer Weg, ein Arbeitsprozess. Bei Ukrainern ist bei uns die Solidarität sofort da - wobei sich die Frage stellt, wie sich das in den kommenden Jahren entwickelt.

Da spielen gewisse Mythen auch eine Rolle. Der "Macho" aus Syrien oder der "Fundamentalist", so, als wären alle Menschen in dieser Region gleich aufgestellt, was natürlich nicht so ist. Es ist eine differenzierte Gesellschaft wie alle anderen.

Wie sieht man in Lateinamerika den Krieg in der Ukraine?

Ich war bis Anfang letzter Woche in Brasilien. Insgesamt muss man sagen, dass dort in der Linken - das, was man als Linke bezeichnet - ein gewisses Verständnis für Putin vorhanden ist: in Kuba, Nicaragua, Venezuela. Das ist durch einen ausgeprägten Anti-Amerikanismus bedingt. Alles, was gegen die USA ist, ist gut. Und das ist nicht unbegründet. Die USA waren die großen Unterstützer der Militär- und anderer Diktaturen in den 1960er- , 70er-und 80er-Jahren. Die Linke ist von diesen Erfahrungen geprägt. Einige unter den Linken vertreten Positionen, die man sonst nur aus "Russia today" kennt. "Krieg gegen die Nazis in der Ukraine" und so weiter.

Da könnte die Linke aber auch sagen: Wir kennen das, was Putin macht, aus eigener Erfahrung. Wir sind dagegen!

Durch die Menschenrechtsverletzungen und die Tragödie in der Ukraine hat sich die Stimmung schon ein wenig in Richtung Verurteilung des Krieges verändert. Aber zunächst waren viele unklar in ihrer Argumentation.